SPÖ-Bundesbildungsorganisation (Maderthaner/ Klocker/ Schmid)
SPÖ und NEUTRALITÄT
HISTORISCHE ENTWICKLUNG
Zur Durchsetzung einer von der SPÖ bereits in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1945 offensiv betriebenen Politik des Aufbaus eines „geordneten politischen und zivilen Lebens“ musste in den Monaten nach der Befreiung zunächst die Autorität der provisorischen Regierung Renner gegenüber den Alliierten wie auch gegenüber den Bundesländern sichergestellt werden. Renner war von den Sowjets mit dem offensichtlichen Hintergedanken, in ihm eine willfährige Marionette zu finden, zum Staatskanzler gemacht worden. Er hat sich dem mit List und mit der ganzen Routine seines langen politischen Lebens erfolgreich widersetzt. Renner konnte sich die Anerkennung der Alliierten sichern, setzte österreichweite Wahlen unter Ausschluss der „Belasteten“ (ehemaligen Nationalsozialisten) noch 1945 durch, und wurde, als „Gründervater“ der Zweiten Republik, deren erster Bundespräsident.
Erst die weitere Entwicklung der internationalen Mächtekonstellation ließ die SPÖ auf eine Position der westlichen Seite und in weiterer Folge auf eine außenpolitische Position der immerwährenden Neutralität einschwenken, wie dies u.a. der aus dem amerikanischen Exil heimgekehrte Julius Deutsch am Parteitag 1947 mit Nachdruck verfochten hatte.
Dies stand allerdings zunächst im Widerspruch zur internationalen Entwicklung; spätestens mit der „Korea-Krise“ eskalierte der Kalte Krieg. Erst nach dem Tod Stalins im März 1953 sollte sich die weltpolitische Konstellation allmählich zugunsten einer Suche nach Lösungen und Kompromissen zwischen Ost und West wenden. Im Jänner 1954 (Berliner Konferenz) nahm Österreich erstmals direkt an den Verhandlungen der Großmächte teil. Die neue Moskauer Führung unter Chruschtschow wollte angesichts des zunehmenden Erfolgs der Containment-Politik der USA ein nach Außen weithin sichtbares Zeichen für die Abkehr vom Stalinismus setzen und war nun zu weiterführenden Zugeständnissen bereit.
Es schlug die Stunde der Neutralität: Hatte schon der SPÖ-Parteitag 1947 ein Aktionsprogramm mit der Formulierung „Österreich – frei und neutral! Internationale Garantie der Neutralität Österreichs zur Sicherung seiner bestehenden Grenzen, seiner Freiheit und Unabhängigkeit“ beschlossen, so war die Neutralität spätestens seit Berlin 1954 zur zentralen Verhandlungsposition der ganzen Regierung geworden.
In der Frage der Entwicklung der Neutralität spielte Bruno Kreisky als junger Staatssekretär mit seinen Erfahrungen aus dem schwedischen Exil eine wesentliche Rolle. Er vermittelte nicht nur zwischen Raab und Schärf, sondern auch in Richtung der amerikanischen Besatzungsmacht und ihren Vorbehalten gegen eine Neutralität. Es galt den USA klarzumachen, dass die „Neutralisierung Österreichs“ keinesfalls zur sowjetischen Vorherrschaft führen würde.
Die Verhandlungen der Viermächtekonferenz in Berlin 1954 für einen Staatsvertrag, an denen Österreich erstmals als gleichberechtigter Partner teilnehmen durfte, scheiterten an der Verbindung dieser Frage mit einem Friedensvertrag mit Deutschland und der sowjetischen Forderung nach einer symbolischen Truppenpräsenz in Österreich.
In Österreich hielt man am Konzept der Neutralität fest und Kreisky wusste auch, dass dieser Begriff politisch und juristisch noch sehr unpräzise war. Bei einem Abendessen am 17.3.1955 zu Ehren des sowjetischen Hochkommissars zitierte Kreisky aus den Protokollen des Wiener Kongresses 1815 und schlug eine NEUTRALITÄT NACH DEM VORBILD DER SCHWEIZ vor. Dies wurde umgehend nach Moskau berichtet.
Vor dem Hintergrund der im Oktober 1954 unterzeichneten und Ende Februar 1955 vom Deutschen Bundestag ratifizierten Pariser Verträge, die das Besatzungsregime in Westdeutschland beendeten, aber auch vor dem Hintergrund der von Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisierung, war das nach wie vor von den Alliierten Mächten besetzte Österreich von 12. bis 15. April 1955 zu Verhandlungen nach Moskau eingeladen worden. Das für die sowjetische Seite von Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats, Anastas Mikojan, unterzeichnete Schlusskommuniqué wies spektakuläre Erfolge für die österreichische großkoalitionäre Regierungsdelegation auf – von der Art, dass die New York Times von einer Revision der bisherigen russischen Taktik und einem entscheidenden Einbruch, in den seit der Korea-Krise so dramatisch eskalierten Kalten Krieg sprach. Österreich, so der allgemeine Tenor, könne damit erneut zu einem „Katalysator der Weltpolitik“ werden.
Das Moskauer Memorandum brachte zunächst den Wunsch beider Seiten nach ehebaldigem Abschluss eines Staatsvertrags im Rahmen einer Fünfmächtekonferenz zum Ausdruck und legte die dafür notwendigen Bedingungen fest. Die wiederhergestellte unabhängige und demokratische Republik Österreich werde keinerlei militärischen Bündnissen beitreten oder militärische Stützpunkte auf ihrem Gebiet dulden; die Truppen der alliierten Besatzung sollten nach Inkrafttreten des Vertrags bis spätestens 31. Dezember dieses Jahres abgezogen werden. Überaus augenfällige Zugeständnisse konnten auch auf dem Gebiet der künftigen wirtschaftlichen Gestaltung Österreichs erreicht werden; sie ergänzten respektive änderten in wesentlichen Teilen die Bestimmungen der bisherigen Vertragsentwürfe und ließen die so lange ersehnte Unabhängigkeit des Landes mit einem Schlag real erscheinen.
So erklärte sich die Sowjetunion bereit, die im Entwurf vorgesehene Ablöse für die (als deutsches Eigentum beschlagnahmten und nach österreichischem Gesetz bereits großteils verstaatlichten) USIA-Betriebe in der Höhe von 150 Millionen Dollar nunmehr in Form von Warenlieferungen zu akzeptieren. Gleichfalls konnte eine Einigung in der überaus sensiblen Frage der (zu diesem Zeitpunkt enorm ertragreichen) Zistersdorfer Erdölquellen erzielt werden; anstelle der bislang vorgesehenen sechzigprozentigen Ausbeutung über eine Dauer von drei Jahrzehnten nach Abschluss des Staatsvertrags willigte die Sowjetunion nunmehr in Rohöllieferungen von zehn Millionen Tonnen über ein Jahrzehnt ein. Die Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft mit allen Anlagen inklusive der Korneuburger Werft, die ursprünglich zur Gänze in sowjetischem Besitz bleiben sollte, wurde ebenfalls abgelöst.
„Dieser 15. April 1955 war der größte Tag meines politischen Lebens…“ hat Kreisky später immer wieder betont. Schärf und Kreisky gelang es auch umgehend amerikanische Bedenken auszuräumen und klarzustellen, dass eine Neutralität nach dem „Vorbild der Schweiz“ bedeutet, dass Österreich zwar außenpolitisch neutral, gesellschaftspolitisch, aber unmissverständlich dem Westen zuzuordnen ist.
Die Heimkehr der Verhandler gestaltete sich zu einem Triumphzug sondergleichen, zu einer, wie die Arbeiter-Zeitung schrieb, elementaren Manifestation österreichischen Freiheitswillens. Am Vormittag des 15. April 1955 hatte die aus Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl und Staatssekretär Bruno Kreisky bestehende Delegation im Moskauer Amtssitz Molotows ein in der Form eines Gedächtnisprotokolls gehaltenes Memorandum unterzeichnet, um 17 Uhr war die Sondermaschine auf dem Vöslauer Flughafen gelandet. Tausende, zigtausende Menschen säumten den Weg der Delegation nach Wien, wo sie bei der Spinnerin am Kreuz und vor dem in ein rot-weiß-rotes Fahnenmeer getauchten George-Washington-Hof von Bürgermeister Franz Jonas in Empfang genommen wurde. Ihr erster Weg führte in die Hofburg zur Berichterstattung an Bundespräsident Theodor Körner. Ein Jahrzehnt lang hatte das in vier Besatzungszonen geteilte und von der permanenten Gefahr einer territorialen und politischen Spaltung bedrohte Land um die Wiedererlangung seiner vollen Souveränität gerungen, nunmehr war der Abschluss eines Staatsvertrags in greifbare Nähe gerückt.
Das politische Kernstück des Übereinkommens, die künftige Eigenstaatlichkeit und die Neutralität Österreichs sowie deren Garantie durch die alliierten Mächte, wird in expliziter Form gleich auf Seite eins des Memorandums angesprochen. Die Neutralität Österreichs nach dem Vorbild der Schweiz, nunmehr definitive sowjetische Option, sollte von der österreichischen Bundesregierung in Form einer Deklaration bestätigt und in der österreichischen Verfassung verankert werden. Der Weg zur Unterzeichnung des Staatsvertrags (15. Mai 1955) war somit nach zehn langen Jahren der Besatzung frei, am 25. Oktober 1955 verließ der letzte fremde Soldat das Land, tags darauf wurde das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs beschlossen.
NEUTRALITÄT und LANDESVERTEIDIGUNG
Das Neutralitätsgesetz spricht nicht ausdrücklich von einer bewaffneten Neutralität. Der Sinn nach einer bewaffneten Neutralität lässt sich aber aus dem Moskauer Memorandum ableiten. Hier wird das Vorbild der Schweiz angesprochen. Bereits mit den Schlussakten des Wiener Kongresses 1815 wurde die bewaffnete Neutralität der Schweiz festgeschrieben. Abgesehen davon war die Bewaffnung des Bundesheeres eine unabdingbare Forderung der Westmächte gewesen. Das heißt mit anderen Worten: Ohne Bundesheer hätte es keinen Staatsvertrag gegeben!
Nach dem Moskauer Memorandum vom April 1955 war also klar, dass es eine bewaffnete Neutralität gibt, da dies auch die USA wollten. Man vergesse nicht: das Bundesheer wurde nach seiner Aufstellung – konkret der Überführung aus der B-Gendarmerie – primär mit Waffen der USA und von den USA ausgerüstet. So haben die USA die ersten Panzer überlassen, den M 46, und auch andere schwere Waffen. Selbst die Sowjets waren für die Bewaffnung des österreichischen Bundesheeres – der schwere 12 cm Granatwerfer kam aus der Sowjetunion – und auch noch andere Waffen und Ausrüstung. Beide Seiten wollten ein wehrfähiges Österreich.
Unabhängig davon ist es die herrschende völkerrechtliche Lehre, die mit einem Gebot der bewaffneten Verteidigung des Neutralen verbunden ist.
Die SPÖ hat sich stets zur Landesverteidigung, vor allem in einem umfassenden Sinn bekannt. Im Wahlprogramm 1971 heißt es dazu: „Wir wollen haben, dass die Landesverteidigung als Selbstverständlichkeit allgemeine Anerkennung findet.“
KREISKY strebte die Verankerung der Verteidigungsidee in der Bevölkerung an und gemeinsam mit dem legendären Armeekommandanten SPANOCHI gelang es die Idee eines echten Milizheeres aufzugreifen und durch überproportionale Budgetzuwendungen zu finanzieren. Die Idee des Milizheeres wurde zunächst von konservativer Seite heftigst bekämpft, da man die Interessen eher bei einem Berufsheer sah. Die SPÖ verwies stets auf die demokratiepolitische Bedeutung eines Milizsystems und darauf, dass die Verteidigung eine Angelegenheit des gesamten Volkes sein müsse.
Verbunden mit einer aktiven Außenpolitik hat das österreichische Bundesheer im Auftrag der Vereinten Nationen über 100 internationale Friedenseinsätze in aller Welt durchgeführt. Besonders zu erwähnen sind hier die Einsätze im Kongo, auf den Golan-Höhen (Israel/Syrien/Libanon), in Zypern, am Balkan (Kosovo) etc. Diese Einsätze haben zu einer großen Wertschätzung und Anerkennung Österreichs weltweit geführt.
NEUTRALITÄT UND AUSSENPOLITIK
Völlig im Einklang mit der Neutralität hat sich Österreich stets zu den Grundsätzen der westlichen, pluralistischen Demokratien bekannt. Das außenpolitische Konzept der 2. Republik basierte auf den Säulen von Staatsvertrag und Neutralität.
Österreich hat sich vor allem unter der Kanzlerschaft von Bruno Kreisky zu einer aktiven Neutralitätspolitik bekannt und sich stark in die internationalen Gemeinschaften eingebracht.
Diese war gekennzeichnet durch eine politische Vorreiterrolle im Nahen Osten, in der Bereitschaft in weltpolitischen Krisen (zB. Iran, Afghanistan, Zentralamerika etc.) Vermittlungsdienste anzubieten. Dazu kam die Rolle Österreichs und Wiens als Gastgeber für internationale Begegnungen.
Diese vielfach auch als „positive Neutralitätspolitik“ bezeichnete Politik hatte nicht das Ziel das „Standing“ der Neutralen zu verbessern, sondern die Absicht sich aktiv in Friedenspolitik einzubringen und auch Länder der Dritten Welt in ihrem Streben nach Unabhängigkeit zu unterstützen.
Das österreichische Engagement war von einer starken Hinwendung zu den Vereinten Nationen geprägt. Eine besondere Anerkennung dieser Rolle durch die Weltgemeinschaft fand sich in der Tatsache, dass Österreich erstmals Nicht-ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates (1972/73) wurde. Mit dem Bau der UNO-City und des Konferenzzentrums gelang es Wien als Dritten Sitz der Vereinten Nationen zu etablieren, was sicherlich einer der größten außenpolitischen Erfolge der jüngeren Geschichte war.
Auf der Grundlage der Neutralität konnte sich trotz des Kalten Krieges in Europa eine anerkannte Multilaterale Außenpolitik entwickeln. Österreich hat sich unter anderem stark in Fragen der Menschenrechte eingebracht und war Mitarchitekt des KSZE Prozesses (Helsinki 1975), der viele demokratische Entwicklungen in Osteuropa begünstigt hat.
Österreich hat später in allen Beitrittsgesuchen an die Europäischen Gemeinschaften (1989) stets seinen Neutralitätsstatus hervorgehoben und ist unser diesen Bedingungen bzw. Voraussetzungen am 1.1.1995 den Europäischen Gemeinschaften beigetreten.
CONCLUSIO
- Eine aktive Außenpolitik ist gerade auf der Grundlage der Neutralität möglich und wünschenswert. Sie kann – auch unter den Bedingungen der Europäischen Integration – bei entsprechendem politischen Willen stets Teil einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierungs- und Öffnungsstrategie sein.
- Daher bekennt sich die SPÖ uneingeschränkt zum Wesen und den Prinzipien der Neutralität, auch unter den Bedingungen der Europäischen Union.
- Die Neutralität steht auch aktuell in keinerlei Widerspruch zu einer aktiven Außenpolitik und sollte sich sehr stark am System der Vereinten Nationen orientieren.
- Dabei darf die Rolle Wiens als Sitz der Vereinten Nationen nicht vernachlässigt werden.
- Die Charta der Vereinten Nationen ermöglicht auch den Neutralen sehr weitreichende Spielräume, vor allem hinsichtlich militärischer, internationaler Friedenseinsätze.
- Neutralität und Landesverteidigung korrelieren sowohl völkerrechtlich als auch im Hinblick auf unsere Verpflichtungen aus dem Staatsvertrag und den korrespondierenden Vereinbarungen mit den Siegermächten.
- Mit dem Verweis der Neutralität nach Schweizer Vorbild ist auch die bewaffnete Komponente der Landesverteidigung zweifelsfrei verbunden.
- Die SPÖ hat sich stets zu einer militärischen, bewaffneten und umfassenden Landesverteidigung mit einem starken Milizsystem bekannt. Die Verteidigungsidee hat dabei die gesamte Bevölkerung zu erfassen und ist unverrückbarer Teil unseres demokratischen Gesellschaftsgefüges.
Siehe dazu auch:
NEISSL, Christian, Die Wehrpolitik der Sozialdemokratie, Universität Wien, 2008
SCHMID, Gerhard, Österreich im Aufbruch- die österreichische Sozialdemokratie in der Ära Kreisky, Innsbruck 1999
KLOCKER, Prof. Dr. Fritz, ehem. Büroleiter zahlreicher SPÖ- Bundesparteivorsitzender, Militärexperte, Wirtschaftsmanager und Publizist
MADERTHANER, HR Univ.Doz. Dr. Wolfgang, Historiker, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs i.R., Gf. Vorsitzender des Vereins Geschichte der Arbeiterbewegung
SCHMID, Prof. Mag. Dr. Gerhard, Gemeinderat und Landtagsabgeordneter in Wien, Hochschulprofessor, SPÖ-Bundesbildungsvorsitzender, Politikwissenschafter