Marie Jahoda Preis für herausragende wissenschaftliche Erkenntnisse

Auf dieser Seite wollen wir regelmäßig über unseren Marie Jahoda Preis für herausragende wissenschaftliche Erkenntnisse berichten. Diesen Ehrenpreis hat die SPÖ Bildung mit der Wiener SPÖ-Bildung sowie der Wiener Bildungsakademie 2022 ins Leben gerufen.

Die sozialdemokratischen Bildungsorganisationen haben in Erinnerung an die großen wissenschaftlichen Leistungen der österreichischen Sozialpsychologin und Pionierin der empirischen Sozialforschung Marie Jahoda den nach ihr benannten Preis ins Leben gerufen, um Persönlichkeiten zu ehren, die herausragende Erkenntnisse über das Wechselspiel von Arbeit und Gesellschaft erbringen. Marie Jahoda selbst stellte immer auch den sozialen Anspruch an die Wissenschaft, Gegenstand ihrer Studien waren lebensnahe Forschungsfragen, die sich an realen Problemen ihrer Gegenwart orientierten, wobei sie sich speziell für die Zusammenhänge zwischen individuellem Handeln und sozialem Kontext interessierte.

Der Preis prämiert Menschen, die – im Geiste Marie Jahodas – jenseits des neoliberalen Mainstreams den Wirtschaftsfaktor Arbeit in seinen sozialen und individualpsychologischen Funktionen der demokratischen und gesellschaftlichen Teilhabe sowie individueller Lebenserfüllung betrachten, auf die Herausforderungen des digitalen Umbruchs in der Arbeitswelt neue Antworten finden und sich über die Welt der Wissenschaft hinaus aktiv in politische Debatten einbringen.

Marie Jahoda promovierte bereits mit 25 Jahren in Psychologie und war damit eine der jüngsten „Doktoren“ an der Universität Wien. Im selben Jahr verfasste sie außerdem den Haupttext zu der heute weltbekannten Studie über Die Arbeitslosen von Marienthal und die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf die Betroffenen. Sie schuf damit ein Werk der „erzählenden Wissenschaft“ von nicht nur literarischer Originalität, sondern bot erstmals auch wissenschaftlich fundierte Einblicke in das Alltagsleben der von Erwerbsarbeit abhängigen Menschen. Ihr bitteres Fazit, dass lang andauernde Arbeitslosigkeit nicht zu revolutionärem Verhalten führe, sondern zu Resignation, widerlegte empirisch diesbezügliche Hoffnungen mancher Theorien der Sozialphilosophie. Aufgrund ihres politischen Engagements für die österreichische Sozialdemokratie – Marie Jahoda war seit ihrer Jugend eng mit der Arbeiter*innenbewegung verbunden – kam sie, obwohl sie alleinerziehende Mutter einer Sechsjährigen war, für neun Monate in Haft und musste 1937 Österreich verlassen. Der austrofaschistische Staat erkannte ihr auch die Staatsbürgerschaft ab. Sie ging nach London, wo sie als Wissenschaftlerin weiter die sozialen und psychologischen Bedingungen des Wirtschaftsfaktors Arbeit erforschte, sich aber auch als Mitarbeiterin im britischen Informationsministerium und im Londoner Büro der Auslandsvertretung österreichischer Sozialist*innen sowie als Redakteurin des Senders „Radio Rotes Wien“ aktiv am Kampf gegen den Faschismus beteiligte. Nach dem Weltkrieg ging sie in die USA, wo sie zuletzt als Professorin für Sozialpsychologie an der New School for Social Research der New York University lehrte. 1958 kehrte sie nach Großbritannien zurück und nahm die britische Staatsbürgerschaft an. Nach mehreren Lehrtätigkeiten und einer Professur für Psychologie und Sozialwissenschaften, begründete sie 1965 an der University of Sussex den Lehrstuhl für Sozialpsychologie, den sie bis zu ihrer Emeritierung 1973 innehatte. 2001 starb Marie Jahoda in ihrer englischen Heimat Sussex.

In ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigte sie sich auch mit den Methoden empirischer Sozialforschung sowie dem Problem, wie bei rein quantitativer Analyse unsichtbar bleibende Einstellungen und Werte messbar bzw. sichtbar gemacht werden können:

The problem in the human and social sciences is to make invisible things visible. Weiters forschte und publizierte Marie Jahoda zu den Themenbereichen Arbeit und Arbeitslosigkeit, Antisemitismus, Autorität und Familie sowie Nationalismus. Sie schuf zudem das Modell der manifesten und latenten Funktion von Erwerbsarbeit.

Preisträgerin 2023: Prof.in Käthe Sasso

Preisträgerin 2022: Dr.in Lotte Bailyn

Erste Marie-Jahoda-Preisträgerin ist die 1930 in Österreich als Tochter von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld geborene, US-amerikanische Sozialpsychologin Lotte (Franziska) Bailyn, welche die Auszeichnung für ihre Forschung zum Strukturwandel in der industriellen Arbeitswelt erhält. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Trennung von Arbeitswelt und Familie negativ auf Produktivität und Arbeitszufriedenheit auswirke. 1993 formulierte sie daher ihre vorerst kaum beachtete „duale Agenda“ zur Überwindung dieser Trennung und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Nach einem Bachelor-Abschluss 1951 in Mathematik promovierte Lotte Bailyn 1956 am Radcliffe-College – einem an die Harvard University in Cambridge bei Boston angeschlossenen ehemaligen Frauencollege – in Sozialpsychologie. Wie viele Akademikerinnen jener Zeit, ihre Mutter ebenfalls, musste sich Lotte Bailyn vorerst mit Zeitverträgen in der wissenschaftlichen Forschung durchschlagen, bis sie 1972 eine Anstellung als Associate Professor und 1980 als Full Professor an der Sloan School of Management am Massachusetts Institute of Technology M.I.T. erhielt. Als Zeichen der Anerkennung freuen wir uns, den Marie Jahoda Preis 2022 am Mittwoch, den 26. Oktober in Boston, an Lotte Bailyn zu übergeben.