Bereits in der letzten Ausgabe des „Kämpfers“ brachten wir auf Seite 11 einen Artikel von Franz Gehringer über das nördlich von Wiener Neustadt gelegene größte Anhaltelager im Austrofaschismus. Gerald Netzl hat das gleichnamige 2015 erschienene Buch von Pia Schölnberger (wieder) gelesen und im folgenden Beitrag interessante Fakten zusammengefasst.
Ab 1820 wurden in Wöllersdorf Artillerieraketen produziert, ab 1867 Artilleriemunition. Die sog. „Feuerwerksanstalt“ (so heißt die nahe Bahnhaltestelle noch heute, Anm.) hatte im Ersten Weltkrieg einen Höchststand von 40.000 Beschäftigten. In der Ersten Republik stand das 3 km² große Fabrikgelände weitgehend leer. Eine Parallele zu Nazi-Deutschland: Das KZ Dachau wurde 1933 ebenfalls auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik errichtet.
Obwohl bereits im Herbst 1933 eingerichtet, definierte die Anhalteverordnung erst im Juni 1934 das Ausmaß des Freiheitsentzuges:
1. Anhaltung als Vergeltungsmaßnahme: 4-8 Wochen, 2. Anhaltung wegen Propaganda durch Flugschriften, Klebezettel, Teilnahme an politischen Demonstrationen: 2-4 Monate 3. Anhaltung prominenter politischer Führer, von denen der Sicherheitsbehörde bekannt ist, dass sie sich weiterhin betätigen, ohne, dass ein strafbarer Tatbestand nachgewiesen werden konnte: 4-6 Monate 4. Anhaltung überführter Terroristen, wobei der durch den Anschlag angerichtete Schaden bzw. die Gefährlichkeit des Anschlags zu berücksichtigen ist: 6-12 Monate
Wöllersdorf diente zur Internierung von Personen, die als Regimegegner galten bzw. der Gegnerschaft verdächtig waren, denen jedoch keine strafbare Handlung nachgewiesen werden konnte, oder die aufgrund einer solchen bereits strafgerichtlich und / oder polizeilich belangt worden waren. Das war eine weitere Parallele zu NS-Deutschland: Man konnte OHNE gerichtliche Verurteilung oder NACH abgesessener Strafe „angehalten“ werden (bzw., in Nazi-Deutschland, in „Schutzhaft“ genommen werden). Aufgrund der Nähe zu Wien waren Wiener immer der Großteil der Häftlinge.
Perfide war, von den Eingesperrten sogar noch Geld zu verlangen: Im November 1933 wurde ein Betrag von ÖS 3,50 pro Aufenthaltstag festgesetzt, den die Häftlinge nach der Entlassung hätten zahlen müssen. Engelbert Dollfuß erschien das zu niedrig, es wurde gleich auf ÖS 6,- erhöht (entspricht € 27,-). Fahrt- und Transportkosten wurden den Häftlingen ebenfalls in Rechnung gestellt. Da die meisten Häftlinge seit Jahren arbeitslos waren, konnten nur 1-2 % des einzutreibenden Geldes eingetrieben werden. Noch eine Schikane: Im September 1934 wurde eine Bestimmung erlassen, wonach Hochschülern das aktuelle Semester nicht angerechnet würde, wenn sie in ein Anhaltelager „abgegeben“ wurden.
In Wöllersdorf waren bis zur Einlieferung von vielen Sozialdemokraten nach dem Februar 1934 fast nur Nationalsozialisten und einige Kommunisten eingesperrt. Am 1.6.1934 waren 627 Linke und 317 Nazi inhaftiert, am 3.9.1934 3.400 Nazi (Putschversuch am 25. Juli!) und 545 Linke, im Jänner 1935 500 Nazi, 64 Sozialdemokraten und 90 Kommunisten. Der Historiker Kurt Bauer hat 7.823 Personen festgestellt, die in Wöllersdorf „angehalten“ wurden, darunter eine Frau, ganz kurz bei Errichtung des Lagers. 73 % waren Nazi.
Die Verhältnisse waren nicht zu vergleichen mit einem deutschen Konzentrationslager, die Verpflegung war besser, es gab keine Folter, ja, für die Nazi war Wöllersdorf ein Schulungsort. Als Zeitvertreib dienten Sport, Basteln, Lesen und Vorträge. Rosa Jochmann sagte später: „Die Zeit von 34 bis 38, die wir gesessen sind, das kann man nicht einmal mit einem Atemzug nennen mit dem, was nachher gekommen ist.“ Zermürbend war, dass die Häftlinge oft nicht wussten, wie lange die „Anhaltung“ dauern sollte. Und es sei unbedingt daran erinnert, dass der kranke Otto Glöckel an den Folgen einer bewusst überlangen Haft gestorben ist und am 7. Juni 1934 der ehemalige sozialdemokratische Parteisekretär und Landtagsabgeordnete Rudolf Posch aus Neunkirchen aus Verzweiflung in den Selbstmord getrieben wurde. Laut illegaler Arbeiter Zeitung vom 12.12.1936 starb ein Häftling bei Erdarbeiten im ehemaligen Sprenggebiet bei einer Explosion. Ein Kameramann der „Ostmark-Wochenschau“ starb an den Folgen der Dreharbeiten des Abbrennens einer Baracke, er war zu nah am Feuer und erlitt eine Rauchgasvergiftung. Ob es darüber hinaus Tote gegeben hat ist nicht erforscht.
Foto: Wöllersdorf4.jpg Credit: Gerald Netzl
Text: Das 1974 errichte Mahnmal für das Anhaltelager Wöllersdorf
Der Dank für den Text und die Bilder geht an den Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen,
Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen. Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden sich hier: http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2024/06/Kaempfer-4_5_6_2024.pdf