25. Oktober 2023: Karl Renner und dieAntisemitismus-Debatte

von Michael Rosecker

Im Zuge der Debatte um die Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings wurde Karl Renner in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung 2013 ebenso mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert. Anstoß dafür waren einige von Karl Renners Parlamentsreden in der Ersten Republik. Diese wurden vom Salzburger Historiker Franz Schausberger als Provokation in der Lueger-Debatte bruchstückhaft und kontextlos zitiert. Festzuhalten ist, dass Karl Renner den Antisemitismus Karl Luegers, Leopold Kunschaks und der Christlichsozialen Partei in Artikeln analysierte und öffentlich kritisierte. Seine Ablehnung der naturalistisch-biologistischen „Rassentheorien“ der deutschnationalen und schließlich nationalsozialistischen Provenienz ist ebenso dokumentiert.

Antisemitismus als Instrument der politischen Mobilisierung bis 1938
Die bürgerlichen Parteien betrieben in der Absicht, eine „Einheitslisten-Politik“ gegen die Sozialdemokratie zu etablieren, für die Nationalratswahl 1920 einen massiv antisemitischen Wahlkampf. Diese Wahlkampagne mobilisierte Ressentiments vor allem gegen jüdische Kriegs- und Pogromflüchtlinge aus Galizien und die als „verjudet“ attackierte Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Nach dem christlichsozialen Wahlsieg wurde die antisemitische Mobilisierung als wahlentscheidend wahrgenommen und von Renner mit sarkastischer Rhetorik scharf kritisiert. Dabei überzog er in einzelnen Passagen die Polemik im parteipolitischen Streit und bediente in seiner Kritik des christlichsozialen Antisemitismus selbst antisemitische Vorurteile. Ebenso verwendete er – vor allem im Wahlkampf 1923 – das von der Sozialdemokratie kampagnisierte antikapitalistische Klischee von der Zusammenarbeit des „jüdischen Bankenkapitals“ mit den „Antisemiten“. Die SDAP versuchte immer wieder, die systematische Punzierung als „verjudet“, als „Judensozi“ oder als „Judenschutztruppe“ in der politischen Auseinandersetzung abzuwehren. Polemische Rhetorik und sarkastische Überspitzung wurden als Versuche gesehen, die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus der Christlichsozialen und Deutschnationalen zur Massenmobilisierung und Verblendung der Wähler:innen bloßzustellen. Diese Praxis dekonstruierte jedoch nicht wie beabsichtigt antisemitische Vorurteile und Klischees, sondern half sie zu verfestigen.

Ein Studium der Partei- und Wahlprogramme, der Wahlkämpfe, der politischen Publizistik und vor allem der bürgerlichen (männlichen) Machtnetzwerke samt deren „Vereinsstatuten“ (von der Deutschen Gemeinschaft bis zu den Ostmärkischen Sturmscharen) macht jedoch sichtbar, bei welchen Parteien der Antisemitismus zum ideologischen Kernelement und zur politischen Alltagspraxis gehörte. All das muss Gegenstand historisch-kritischer Forschung und Einordnung sein.

Ausblendung der Mitverantwortung an den NS-Verbrechen 1945
Bei der Beschäftigung mit Karl Renners historischen Leistungen bei der Wiedererrichtung der Republik 1945 muss neben der Erfolgsgeschichte auch seine Mitverantwortung an der Konstruktion des österreichischen „Opfermythos“ und seine Indifferenz gegenüber der Shoah thematisiert werden. Bereits mit der maßgeblich von Renner verfassten Unabhängigkeitserklärung Österreichs von NS-Deutschland vom 27. April 1945 wurde begonnen, das Land ausschließlich als „erstes Opfer“ und als „besetztes Land“ zu präsentieren. Die Mitverantwortung am Krieg wurde erwähnt, das Schicksal der österreichischen Jüdinnen und Juden nicht. Inwieweit das Beschweigen und Verdrängen der österreichischen Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen und somit das Marginalisieren vieler Opfer im April 1945 auch der katastrophalen Gesamtsituation des Landes in den ersten Nachkriegsmonaten geschuldet war, ist für die Bewertung der Politik der Regierung Renner IV geschichtswissenschaftlich relevant. Die Regierungspolitik hatte eine notwendige gesellschaftliche und politische Befriedung eines gespaltenen Gemeinwesens zu bewerkstelligen, eine existenzielle Versorgungskrise zu bewältigen und die Schaffung demokratischer Strukturen zu gewährleisten. Dennoch, die von den politischen Eliten überparteilich und mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung getragene Ausblendung der österreichischen Mitverantwortung am Nationalsozialismus und seiner verbrecherischen Politik bleibt ein politisch-moralisches Legitimationsdefizit der Zweiten Republik.

Kritische Betrachtung – historische Würdigung
Antisemitismus war für Karl Renners Politikverständnis und Weltanschauung keine maßgebliche Kategorie und vor allem keine innere Antriebskraft für sein Denken und Handeln. In den Berichten der Historiker:innenkommissionen zu den problematischen, nach Personen benannten öffentlichen Flächen in Wien (2012) und Salzburg (2021) wurde dies gleichfalls beschrieben. Ein Blick in Karl Renners Werk zeigt vieles, auch Irrwege und Fehlentscheidungen, aber keine Grundorientierung an der Ausgrenzung von Menschen und Spaltung der Gesellschaft.
Die immer wieder versuchte Gleichsetzung des christlichsozialen Antisemitismus in der Monarchie und der Ersten Republik mit der politischen Praxis anderer Parteien und politischen Persönlichkeiten passiert aus geschichtspolitisch-strategischen Gründen. Besonders scharfgemacht wird diese rhetorische Waffe des Alle-waren-so im Verquicken Karl Luegers antisemitischer Politik mit dem Lebenswerk Karl Renners. Das Gleichsetzen des Unterschiedlichen soll verwirren und relativieren, nach dem Motto: „Wenn alle so waren, dann verliert es an Bedeutung.“ Aktuelle geschichtspolitische Debatten können wichtige Impulse für die Geschichtswissenschaft sein. Sie dienen immer gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Fragestellungen und auch politischen Interessen. Geschichtswissenschaft existiert überall und zu jeder Zeit in einem politischen Raum mit seinen zeitgebundenen Motiven und Konflikten. Für die Existenz der demokratischen Republik 1918 und ihre Wiedererrichtung im Jahr 1945 war Karl Renner federführend verantwortlich, somit auch für ihre Verdienste und ihre Mängel. Daher gilt es, seine große Lebensleistung zu würdigen und sich den vorhandenen kritischen Aspekten zu stellen.

Ein Flugblatt der SDAP verband 1923 den Kampf um die Besteuerung von Banken mit dem Vorwurf der Kooperation der antisemitischen Parteien mit dem „jüdischen Kapital“. Im Versuch, den Antisemitismus als Mobilisierungstrick zu entlarven, bediente sie so selbst antisemitische Ressentiments.

Zitate: „Aber war Karl Renner Antisemit? Die Antwort ist nein, wenn man diese Frage im Kontext der Zeit beantwortet. Renner spielte zwar in seiner politischen Rhetorik mit antijüdischen Stereotypen. Wenn das Antisemitismus ist, dann war Karl Kraus, der schärfste Kritiker des Nationalsozialismus (und selbst Jude), erst recht Antisemit – ganz zu schweigen von den Bischöfen der Katholischen Kirche in Österreich, jedenfalls bis 1945.“ | Anton Pelinka, 2020 „Schausbergers Behauptung, Renner sei ein persönlicher und praktizierender Antisemit gewesen, ist nicht überzeugend, obwohl er antijüdische Anspielungen zu verwenden bereit war, wenn es seinem Zweck diente, die Christlichsozialen in Verlegenheit zu bringen.“ | John W. Boyer, 2022

Die Republik wurde auch (rote) „Wiener Judenrepublik“ genannt. Das antisemitische Wahlplakat zur Nationalratswahl 1920 mobilisierte dagegen. In Flugblättern wurde 1920 gegen die „verjudete Sozialdemokratie“ agitiert. Literatur: John W. Boyer, Austria 1867–1955 (Oxford University Press 2023) Gertrude Enderle-Burcel/Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Antisemitismus in Österreich 1933 bis 1938 (Böhlau 2018) Robert Knight (Hg.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen. Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1953 über die Entschädigung der Juden (Böhlau 2000) Anton Pelinka, Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938 (Böhlau 2017) Michael Rosecker, Karl Renner. Ein republikanisches Fundament (Wien 2020)

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