In den 1860er-Jahren erreichte die Industrialisierung ein Ausmaß, das den Industriekapitalismus zum Fundament der Volkswirtschaft machte. Die Lohnarbeit war schrittweise zum zentralen Element der Produktion geworden. Die Hauptlast des Jahrzehnte dauernden Transformationsprozesses der Industrialisierung trugen vor allem landwirtschaftliches Gesinde, Taglöhner:innen in Stadt und Land, Dienstbot:innen, besitzlose und besitzarme Männer, Frauen und Kinder sowie Handwerker und Heimarbeiter:innen. Diese diverse Masse an Arbeitskräften sollte die Basis für die Entstehung der sozialdemokratischen Arbeiter:innenbewegung werden. Im Rahmen der Dezemberverfassung 1867 wurde ein liberales Vereinsrecht gewährt. Unmittelbar danach entstanden in den meisten Industriezentren der Habsburgermonarchie unzählige „Arbeiter-Vereine“, sowohl als Bildungs-, Spar-, Konsum-, Krankenkassen- als auch als Gewerkschaftsvereine.
Ins weltanschauliche Zentrum der entstehenden politischen Bewegung rückten zum einen die „Selbsthilfe“-Bewegung des deutschen Nationalliberalen Hermann Schulze-Delitzsch. Vornehmlich Handwerker und Facharbeiter sollten durch gerechten Lohn und Gründung von Konsum- und Altersvorsorgevereinen Teil der neuen Wirtschaftsordnung werden. Zum anderen wurde die „Staatshilfe“-Ideologie des deutschen Arbeiterführers Ferdinand Lassalle bedeutend. Durch die Erlangung des allgemeinen gleichen Wahlrechts sollte die Macht im Staat errungen werden, um dann im Sinne des Proletariats die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Ebenso gewannen die Vorstellungen der Internationalen Arbeiter-Assoziation unter Führung von Karl Marx ideologischen Einfluss. Entlang dieser politischen Orientierungen bauten sich massive Richtungsstreitigkeiten auf. Der Streit zwischen Selbst- und Staatshilfe war zentral. Daran haftete auch die Auseinandersetzung, ob man Teil des Liberalismus oder eine selbstständige „Arbeiterpartei“ sein solle. Gerade im österreichischen Vielvölkerreich entbrannte die weitreichende Debatte, ob man sich national nur für das deutsche oder international vor allem auch für das tschechische Proletariat zuständig fühle. Ebenso intensiv wurde über die politischen Mittel zur Erreichung der Ziele gestritten: reformistisch versus revolutionär. Streitparteien waren der „radikale“ Verein „Gleichheit“ in Wiener Neustadt rund um den Wiener Handwerker Andreas Scheu, der „gemäßigte“ Verein „Volksstimme“ um den Journalisten Heinrich Oberwinder in Wien und der „sezessionistische“ Wiener Verein „Brüderlichkeit“ um den Sozialethiker Emil Kaler-Reinthal.
Eine Delegiertenkonferenz sollte die Spaltung überwinden, deren Organisation federführend der Grazer Journalist Hippolyt Tauschinsky übernahm. Schließlich wurde nach Baden bei Wien zu einer „vertraulichen Besprechung“ geladen, die jedoch behördlich untersagt wurde. Nach hektischer Umleitung der Delegierten ins (heute burgenländische, damals) ungarische Neudörfl blieben 74 Stimmberechtigte, die aus Niederösterreich, Wien, Oberösterreich, der Steiermark, Kärnten, Böhmen, Mähren und Ungarn kamen, über. Der Kongress war zunächst von der Überwindung der Fraktionsstreitigkeiten und vom Ausgleich zwischen deutsch- und tschechischsprachigen Delegierten geprägt. So wurde ein Zentralkomitee der neuen Partei in Graz angesiedelt. Die Wiener Neustädter „Gleichheit“ und die Prager „Dělnické listy“ („Arbeiterblätter“) wurden zum Zentralorgan bestimmt. Der Höhepunkt war die Beschlussfassung eines Parteiprogramms. Dieses definierte als Ziele die Befreiung des arbeitenden Volkes von der modernen kapitalistischen Produktionsweise und das brüderliche Zusammenwirken aller nationalen Arbeiterschaften. Es folgte ein Forderungskatalog, der u. a. die vollumfänglichen staatsbürgerlichen Rechte, die Trennung der Kirche vom Staat, obligatorischen Unterricht in den Volksschulen, die Unabhängigkeit der Richter und die Einführung eines gesetzlich geregelten Arbeitstages forderte.
Dem Delegiertentag folgten heftige Reaktionen der Behörden. Die junge Sozialdemokratie erfasste eine Welle der Vereinsverbote. Das Programm selbst wurde schließlich als „staatsgefährlich“ erklärt. Weiters wurden laufend politische Führungspersönlichkeiten verhaftet und wegen „geheimer sozialdemokratischer Verbindungen“ vor Gericht gestellt. Die der Wirtschaftskrise durch den Börsenkrach 1873 folgende Massenarbeitslosigkeit minderte ebenso die Organisationskraft der Partei. Trotz alledem wurde in Neudörfl ein mutiges Fundament für die österreichische Sozialdemokratie geschaffen, das schließlich zum Jahreswechsel 1888/1889 zur endgültigen Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei führen sollte.
Michael Rosecker
Illustration: Neudörfl_Gedenktafel.jpg Credits: SPÖ
Fototext: Diese Gedenktafel wurde am 150. Geburtstag, dem 4. April 2024, am ehemaligen Leithagasthaus in der Hauptstraße 154 in Neudörfl enthüllt
Der Dank für den Text und die Bilder geht an den Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen,
Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen. Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden sich hier: http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2024/06/Kaempfer-4_5_6_2024.pdf