31. Oktober 2023: Spillern 1923

Das politische Ereignis in Spillern im Jahre 1923 hat sich wie auch das nachfolgende Gerichtsverfahren wenige Jahre später ähnlich wiederholt. Schattendorf ging 1927 in die Geschichte ein, Spillern blieb eine Randnotiz.

Seit 1919 ist Spillern, eine 760 EinwohnerInnen starke Gemeinde und ein zwischen Stockerau und Korneuburg an der Nordwestbahn gelegener Ort, eine sozialdemokratische Bastion. Der deutschnationale Gemeinderat Johann Kral (1880-1945) gründet eine nationalsozialistische Ortsgruppe, die im September bereits 43 Mitglieder zählen dürfte. Am Samstag, den 28. Juli 1923 findet die erste Versammlung von Nationalsozialisten in Kotters Gasthaus (2016 demoliert) unter der Leitung des bei der Firma Harmer (1938 erwirbt das Unternehmen die Ottakringer Brauerei durch Arisierung) beschäftigten Adjunkt Hans Holfelder (1900-1929) statt. Nur wenige Personen aus Spillern treffen ein. Die Versammlung wird von Arbeitern gestört und kann nicht zu Ende geführt werden. Für Samstag, den 29. September 1923 ist von den Nationalsozialisten in Spillern die Abhaltung einer weiteren Wahlveranstaltung geplant. Diese wird weder öffentlich angekündigt noch bei der Behörde angemeldet. Da eine Störung durch örtliche Sozialdemokraten zu befürchten ist, wird aus Wien eine Ordnerwehr aus Mitgliedern der Sturmabteilung (SA) zur Unterstützung angefordert. Für 19 Uhr ist im Gasthaus Kotter die Wahlveranstaltung anberaumt. Die Ordnerwehr in einer Stärke von 22 Mann samt ihrem Kommandanten Hans Strobl (1892-unb.) hat am Nordbahnhof (heute Wien Praterstern) den Zug bestiegen und ist gegen 18:20 Uhr auf dem Bahnhof in Spillern angekommen. Lediglich zwei Freiwillige haben einen früheren Zug bis Korneuburg genommen und sind von dort zu Fuß nach Spillern gegangen. Insgesamt 25 Mann sollen die Wahlveranstaltung gegen Störaktionen schützen. Auf Befehl ihres Kommandanten haben die SA-Mitglieder alle Gegenstände abgenommen, die auf ihre nationalsozialistische Parteizugehörigkeit hinweisen könnten, wie Armbinden, Parteiabzeichen, Sturmkappen und dergleichen mehr und diese in ihren Rucksäcken verstaut. Sie machen sich in kleinen Gruppen von jeweils zwei Mann auf den Weg zum 400 Meter entfernten Gasthaus Kotter. Dort angekommen, beziehen zwei Wachposten vor dem Eingang des Gasthauses Stellung, während sich die restlichen 23 Mann angeblich ohne Wissen des Wirts in den großen Gasthaussaal begeben. Eine halbe Stunde nach dem geplanten Beginn der Wahlveranstaltung sind erst drei Mitglieder der Spillerner Nationalsozialistischen Partei im Versammlungsraum erschienen, nämlich der Obmann Johann Kral, der Obmannstellvertreter, der Kärntner Johann Stugger (1893-unb.) sowie das Parteimitglied Hans Holfelder. Da sich im Hof des Gasthauses die Gemeindekanzlei befindet und der sozialdemokratische Bürgermeister Karl Gratzl (1882-1931) zufällig anwesend ist, bemerkt er den Tumult und geht den einheimischen Nationalsozialisten entgegen. Gemeinderat Kral tritt an den Bürgermeister heran, klopft ihm auf die Schulter und teilt ihm bedrohlich mit, dass er mit ihm etwas zu besprechen habe. In der Zwischenzeit ist die Anwesenheit der Nationalsozialisten nicht unbemerkt geblieben und der herbeigerufene Gendarm trifft im Gasthaus ein. Dieser forderte die Anwesenden auf, die Waffen abzugeben. Der Weisung kommen die Männer der Ordnerwehr nicht nach, aber ihr Kommandant erklärt sich schließlich bereit, unverzüglich den Abmarsch der Ordnerwehr zu befehlen. Gleich danach machen sich die Männer wieder auf den Rückweg nach Wien, wobei der Rückmarsch zum Bahnhof Spillern nunmehr in geschlossener Formation in Zweierreihen erfolgt. Die Ordnerwehr wird dabei von einer größeren Menge Einheimischer verfolgt, welche die Männer beschimpfen und mit Gegenständen wie Steinen und mit Kot gefüllten Sardinenbüchsen bewerfen. Als die Männer von der Spillerner Hauptstraße abzweigen und Richtung Bahnhof marschieren wollen, müssen sie erkennen, dass ihnen der Weg dorthin durch eine große Menschenmenge abgeschnitten ist. Bevor sie in eine unangenehme Situation geraten und von der Menschenmenge sowohl von vorne als auch von hinten bedrängt werden können, befiehlt der Kommandant: „Halt! Kehrt euch! Feuer! Sturm!“. Auf dieses Kommando hin fallen mehr als 30 Schüsse, die offensichtlich wahl- und ziellos in die Menschenmenge in Richtung des so genannten 33-er Hauses abgegeben werden. Eine Kugel davon trifft den 16 Jahre alten Spillerner Franz Kovarik in den Kopf. Der junge Kovarik, nur mit einer Hose bekleidet und mit einer Seife in der Hand, wollte vermutlich zum Baden von seinem Wohnhaus, in das wenige Gehminuten davon entfernt gelegene Areal der Spiritusfabrik Harmer gelangen, in der er beschäftigt ist. Nach den vorhandenen und von den Gendarmeriebeamten gesicherten Blutspuren zu schließen, ist Franz Kovarik nach der erlittenen Schussverletzung auf der Straße zusammengebrochen. Er kann sich noch aus eigener Kraft erheben und anschließend bis in das Vorhaus des Hauses Nr. 33 gehen, wo er gemeinsam mit seinen Eltern wohnt. Franz Kovarik bricht im Vorhaus neuerlich zusammen und wird von zwei anwesenden Personen in seine Wohnung getragen, wo er kurz darauf seinen schweren Verletzungen erliegt. Die SA-Männer haben unmittelbar nach dem Vorfall im Laufschritt die Flucht in Richtung Korneuburg ergriffen. Neben dem tödlich getroffenen Franz Kovarik ist Rudolf Wimmer (1907-1985), der durch einen Streifschuss am linken Ohr eine leichte Körperverletzung erlitten hat, als ein weiteres Tatopfer zu beklagen. Die Beamten des Gendarmerieposten Spillern haben unverzüglich nach Bekanntwerden des Vorfalls eine Großfahndung eingeleitet, so dass noch in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1923 alle 25 Männer als Tatverdächtigte festgenommen und in das Gefangenenhaus des Kreisgerichtes Korneuburg eingeliefert werden können. Die an den Ausschreitungen beteiligten Spillerner Johann Kral, Gemeinderat und Eisenbahner, Johann Stugger, Eisenbahner, und Josef Enzersdorfer (1907-1976), Lehrling, werden festgenommen und in das Untersuchungsgefängnis nach Stockerau gebracht, aus dem sie aber schon nach einigen Tagen wieder entlassen werden. Hans Holfelder flüchtet nach Korneuburg, wo er festgenommen und ebenfalls in das Gefangenenhaus des Kreisgerichtes Korneuburg gebracht wird. An den Häusern Nr. 33, wo sich auch der Gendarmerieposten befindet und Nr. 32 konnten insgesamt 32 Einschusslöcher in einer Höhe von ungefähr einem Meter gemessen ab dem Bodengrund gezählt werden. Außerdem wurde von den die Spurensicherung durchführenden Gendarmeriebeamten insgesamt 14 leere Patronenhülsen sichergestellt.

Am 2. Oktober 1923 findet das Begräbnis des Opfers Franz Kovarik am Friedhof in Spillern statt. Rund 15.000 SozialdemokratInnen folgen dem Sarg, nachdem dieser in der Filialkirche kurz aufgebahrt worden ist, und setzen mit dieser politischen Großkundgebung ein sichtbares Zeichen gegen den Nationalsozialismus. Am Grabstein von Franz Kovarik wird ein Jahr später eine Gedenktafel angebracht. Im Jahr 2020 wurde schließlich durch den Gemeinderat eine öffentliche Straßenfläche nach Franz Kovarik benannt.

Der Schwurprozess in der Strafsache Kovarik findet in Korneuburg statt. Letztendlich werden nur der Anführer Hans Strobl und vier seiner Mittäter wegen öffentlicher Gewalttätigkeit (§ 87 Strafgesetz 1852) und unbefugtem Waffenbesitz angeklagt. Es drohen zehn bis zwanzig Jahre schwerer Kerker. Alle Angeklagten werden von der Hauptanklage freigesprochen, sogar die Eventualfrage einer vorsätzlich gegen das Leben und die Gesundheit anderer begangener Handlung (§ 431 StG) wird von den Geschworenen verneint. Vier von ihnen werden wegen Übertretung des Waffengesetzes zu einer Geldstrafe verurteilt, die aber mit der Untersuchungshaft gesühnt ist. Am nächsten Tag schreibt die christlichsoziale Reichspost von einer „Lektion für die roten Terroristen“ und begrüßt den Freispruch, während dessen Arbeiterzeitungen sich empörten.

Bemerkenswert ist heute noch die Tatsache, wie schnell, genau und ausführlich diese Ereignisse in der Presselandschaft je nach politischer Gesinnung wiedergegeben wurden.

Martin Senekowitsch

Fotos: Spillern Volksbote 1923.jpg Keine Credits, kein Fototext

Spillern Begräbnis Kovarik 1923.jpg Credits: Martin Senekowitsch

Text: Begräbnis von Franz Kovarik am Friedhof in Spillern am 2. Oktober 1923

Quelle „Der Sozialdemokratische Kämpfer 7-8-9/2023“ 

Hier geht es zur gesamten Ausgabe

Hinterlasse einen Kommentar