24. November 2022: Blau-Gelbe Gedenkkultur. Der First Vienna FC im Nationalsozialismus

Wenn der Begriff „Volkssport“ auf etwas zutrifft, dann ist es wohl Fußball. Fußball ist nicht nur ein sportliches Spektakel am Wochenende, Fußball ist viel mehr. Nirgendwo sonst liegen Freude und Tränen nur den Bruchteil einer Sekunde auseinander. Fußballplätze sind eine gesellschaftliche Melange, in der soziale Unterschiede verschwinden. Aufgrund von Beliebtheit und Faszination in der Bevölkerung war er aber auch seit jeher Spielball der Mächtigen. Politik und Wirtschaft versuchen auch heute noch Einfluss auf den Fußballsport zu nehmen.

Innerhalb der letzten Jahre haben sich immer mehr Vereine ihrer Geschichte während des Nationalsozialismus gewidmet. Bücher wie „Grün-Weiß unterm Hakenkreuz. Der Sportklub Rapid im Nationalsozialismus“ oder auch „Ein Fußballverein aus Wien: Der FK Austria im Nationalsozialismus 1938-1945“ sind lesenswerte Dokumentationen der österreichischen Sportgeschichte. Auch die Aufarbeitung des NS-Regimes in Vereinsmuseen, die Verlegung von Stolpersteinen und Gedenktafeln für vertriebene und ermordete Funktionäre und Spieler sorgen dafür, dass deren Schicksale ins öffentliche Bewusstsein und nicht in Vergessenheit geraten. Aber auch aktive Fanszenen treten hier mit Choreographien und Aktionen in den Vordergrund. Internationale Beachtung fand beispielsweise eine Choreographie der Schickeria München 2014, die dem verfolgten jüdischen Präsidenten Kurt Landauer gewidmet war. Diese Aktion war der Ansporn, um in Döbling, dem noblen 19. Wiener Gemeindebezirk, im Gedenkjahr 2018 ein starkes Zeichen gegen das Vergessen zu setzen. Engagierte Fans des First Vienna FC 1894 gedachten der Opfer des Nationalsozialismus mit einer aufwändigen Choreographie und einem beeindruckenden Büchlein, das den Titel „Vertrieben und ermordet. Jüdische Mitglieder des First Vienna Football Club 1894“ trägt. Alexander Juraske – Vienna-Fan, Historiker, ehrenamtlicher Kurator des Vereinsmuseums und Mitherausgeber von „Vertrieben und ermordet“ – meint dazu: „Die Vienna ist ein Verein mit einer großen jüdischen Geschichte, aber sie hatte ihre erfolgreichsten Jahre während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Ich habe mich gefragt: Wie geht das zusammen? Was ist da genau passiert? Andere jüdisch geprägte Vereine wie die Hakoah oder die Austria sind mehr im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent. Bei der Vienna stand immer nur ein Halbsatz, wenn es um die NS-Zeit ging. Es ist an der Zeit, das zu ändern.“ Die Vienna ist dabei nicht nur aus zeithistorischer Perspektive besonders interessant (dazu später noch mehr). Liegt die Wiege des österreichischen Fußballsports doch in Döbling, in den Gartenanlagen des jüdischen Barons, Kunstsammlers und Philanthropen Nathaniel Rothschild auf der Hohen Warte. Fußballbegeisterte englische Gärtner und der von einem Englandaufenthalt zurückgekehrte Sohn des Garteninspektors – Franz Joli – fanden schnell Mitstreiter und veranstalteten in den Gärten des Barons ein erstes Match. Nathaniel Rothschild überließ ihnen darauf mit der Kuglerwiese ein eigenes Spiel- und Trainingsgelände. Zum Dank wurden mit den Vereinsfarben Blau und Gelb jene des Hauses Rothschilds gewählt. Am 22. August 1894 wurde mit dem First Vienna Football Club der erste offizielle Fußballverein Österreichs gegründet. Die Vienna verfügt heute trotz jahrelanger sportlicher Erfolglosigkeit über eine loyale Fanszene, die zwar heterogen ist, aber mehrheitlich dem politisch linken Spektrum zuzurechnen ist. Seit den späten 1980ern ist die Hohe Warte ein Anlaufpunkt für Fans, die sich dem positiven Support – also dem Verzicht auf Erniedrigung des Gegners, Rassismus, Sexismus und Homophobie – verschrieben haben. Es handelt sich also um einen sportlichen Boden, der wichtige Publikationen wie „Vertrieben und ermordet“ begünstigt.

Die Vienna ist ein Verein, der nicht nur wegen Nathaniel Rothschild jüdisch geprägt war. Im Buch wird ausführlich auf die jüdische Tradition des Vereins eingegangen und aufgeschlüsselt, warum es dazu kam. Von 1894 bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1938 waren nicht weniger als ein Drittel der Funktionäre jüdischer Herkunft. Besonders deutlich wird dies in den Spitzenfunktionen, denn bis 1938 bekleideten nur zweimal Personen ohne jüdischen Hintergrund die Position des Vereinspräsidenten bzw. Obmanns. Historisch betrachtet war der Fußball in seinen Anfangsjahren der Sport des gehobenen Bürgertums. Döbling war für eine jüdische Beteiligung am Fußballsport besonders prädestiniert. Durch den Zuzug (groß-)bürgerlicher jüdischer Familien fanden diese im Fußball ein Betätigungsfeld, in dem sie dem aufkommenden Antisemitismus entgingen und nicht ausgegrenzt wurden. Die Autor*innen von „Vertrieben und ermordet“ stellen einzelne Schicksale der Funktionäre und Spieler dar, die dem nationalsozialistischen Terrorregime zum Opfer fielen und beleuchten sie detailgenau. Stellvertretend für alle jene Mitglieder der Vienna, denen die Flucht nicht gelingen konnte, möchte ich hier den ehemaligen österreichischen Nationalteamspieler Oskar „Schropp“ Grassgrün nennen, der von der Vienna zum jüdischen Klub Hakoah wechselte. Er wurde im Herbst 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet. Einer, dem die Flucht gelingen sollte, ist die kürzlich leider verstorbene Fußballlegende Hans Menasse, der 1950-1957 für die Vienna spielte. Gemeinsam mit seinem Bruder Kurt entkam er 1938 dem NS-Regime durch einen Kindertransport nach Großbritannien. Im Büchlein findet sich ein gekürztes Interview mit Menasse, in dem er seine Flucht, die Zeit bei Pflegefamilien, aber auch den Beginn seiner Fußballkarriere als junger Bub in Großbritannien beschreibt. Besonders ergreifend ist die Passage, in welcher Menasse von der Arisierung seiner elterlichen Wohnung erzählt. Zugesprochen bekam sie Karl Rainer, ein ehemaliger Spieler der Vienna, der im Wunderteam Karriere machte und ein Ledergeschäft im Nebenhaus führte. Alexander Juraske meint dazu: „Das Interview mit Hans Menasse war für mich besonders berührend. Durch ein Gespräch mit Zeitzeugen bekommt man natürlich einen ganz anderen, tiefen Einblick in das Schicksal des Menschen, der einem gegenübersitzt.“ In „Vertrieben und ermordet“ hat Fußballromantik keinen Platz. Die Autor*innen setzen sich kritisch mit den politisch dunkelsten Jahren ihres Vereins auseinander. Diese waren auch gleichzeitig die erfolgreichsten. Der ÖFB wurde aufgelöst und die Vereine spielten fortan in der Gauliga Ostmark. Die Sieger qualifizierten sich für die Endrunde der deutschen Meisterschaft. Anstatt um den österreichischen Cup wurde nun um den Tschammer-Pokal gespielt (benannt nach dem Reichssportführer). Von 1938-1945 konnte die Vienna neben drei Gaumeisterschaften (1942, 1943, 1944) 1943 auch den Tschammer-Pokal gewinnen. 1942 unterlag man in Berlin im Finale um die deutsche Meisterschaft Schalke 04 mit 0:2. Alexander Juraske regt in seinem Beitrag vollkommen zu Recht dazu an, die Titel aus dieser dunklen Vereinsperiode kontextbezogen zu betrachten. Dabei ist – genauso wie bei den Meistertiteln von Rapid (Gau- und Deutscher Meister 1941) und der Admira (Gaumeister 1939) während des NS-Regimes – zu diskutieren, ob und wie diese „Gaumeistertitel“ auch heute als österreichische Meisterschaft gewertet werden können.

Empfehlenswert ist das 24-seitige „Vertrieben und ermordet“ nicht nur wegen der hervorragenden historischen Aufarbeitung rund um den Fußball jener Zeit. Dem ehemaligen Israelitischen Blindeninstitut wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Dieses stand mit der Adresse Hohe Warte 32 in unmittelbarer Nähe des Stadions und war nach seiner Gründung 1872-1935/36 die einzige Ausbildungsanstalt für blinde und sehbehinderte Jüd*innen weltweit. Durch das angeschlossene Internat besaß es auch einen internationalen Charakter. Der März 1938 sollte zum Ende des Israelitischen Blindeninstituts werden. Es wurde in ein Wohnheim für alte und behinderte jüdische Menschen umfunktioniert. Bis Juli 1942 wurden rund 230 Personen aus dem ehemaligen Blindeninstitut deportiert. Heute befindet sich in dem Gebäude die Polizeidirektion Döbling. Gedenktafeln erinnern an die Opfer.

Franz Mock

Illustration: Cover ViennaFC_Vertrieben.jpg Kein Fototext, keine Credits

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