28. April 2024: Karl der Große – Werner Anzenberger zum Jahresjubilar Karl Kraus.

Karl Kraus ist ein Literaturgigant. Er steht in einer Reihe mit den Allerbesten der österreichischen Moderne: Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti. Am 28. April feiern wir seinen 150. Geburtstag.

Ein Humanist war dieser Karl Kraus. Ein Mann mit mächtigem Rückgrat, ein streitbarer Geist. So etwas kann den intellektuellen Mitbewerb schon einmal in Rage bringen: 1896 versetzt ihm Felix Salten, gedemütigter Exfreund, im legendären Wiener Kaffeehaus Griensteidl am Michaelerplatz, ob dessen exzellenten Rufes als bevorzugter Treffpunkt verkannter Künstler auch Café Größenwahn genannt, eine Doppelwatsch´n. Zwei Ohrfeigen, die sich haben gewaschen haben.

Andere, nicht nur die berüchtigten steirischen Haudrauf-Poeten Ottokar Kernstock und Peter Rosegger, ließen sich im mutwillig vom Zaun gebrochenen ersten Teil des „europäischen Bürgerkriegs 1914-1938“, sei es aus Opportunismus, sei es aus inbrünstiger Überzeugung, vor den Karren der österreichischen Militärpropaganda spannen. Nicht so Karl Kraus. Er schrieb das ewiggültige Antikriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit. Kraus entlarvt, und nicht nur in diesem legendären (Nicht)Bühnenwerk, das Ressentiment. Jene fatale Mischung aus menschlicher Dummheit, Missgunst und Neid, die schon seit jeher in die Katastrophe geführt hat. Seine Satire ist allein deshalb so mutig und bewundernswert, weil sie die Mächtigen kompromisslos bloßstellt und die Schwachen schont.

Kraus‘ periodische Schrift zu Kultur und Politik, Die Fackel, herausgegeben seit 1900, war eine intellektuelle Institution europäischen Formats. Kein Machtapparat, keine Persönlichkeit war vor ihr sicher, wenn Kraus Moral, Anstand und das Recht – wie er es eben verstanden hat – gefährdet sah. Oder die Sprache an sich, die Kraus als sein Allerheiligstes mit Zähnen und Klauen, verteidigte. Den erpresserischen Zeitungsverleger Imre Békessy, Herausgeber des Revolverblattes Die Stunde, verjagte Kraus mit dem Aufruf: „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ Und gegen den Wiener Polizeipräsidenten, Johannes Schober, startete der Literat ebenfalls einen Aktionismus, der zukunftsweisend sein sollte. „Ich fordere Sie auf, abzutreten!” stand auf den zahlreichen Plakaten, die Kraus affichieren ließ. Schober hatte bei der Auflösung der Demonstration vor dem Justizpalast am 15. Juli 1927 in die Menge schießen lassen. Ein völlig unverhältnismäßiger Gewaltexzess, 89 tote Menschen lagen in den Straßen der Stadt.

Kraus, der moralische Fels, Kraus, der Unbestechliche, höchst unbequem für jede Macht, hatte aber auch seine Schattenseiten. Seine Grundhaltung offenbart verstörend autoritär-patriarchale Züge, ist zuweilen explizit anti-emanzipatorisch und frauenfeindlich. Zudem verfehlten seine politischen Analysen oft den wesentlichen Punkt. Bei der zutreffenden Geißelung einzelner Missstände übersah Kraus immer wieder übergeordnete Entwicklungslinien. Seine Perspektiven zeugen vielfach von Naivität und – zunehmender – Orientierungslosigkeit.

Kraus war der moderne demokratische Verfassungsstaat wohl nie ein wahreres Anliegen. Dieses Defizit zeigte sich spätestens in Österreichs Schicksalsjahren 1933/34. Geradezu religiös-pathetisch aufgeladen huldigte Kraus der austrofaschistischen Diktatur. Und ihrem Führer Engelbert Dollfuß, dem „kleinen Retter aus großer Not”.

Seine bisherigen Bewunderer und Wegbeleiter waren, gelinde gesagt, überrascht. Das allerdings ist das wirklich Erstaunliche. Hätte man Kraus‘ bisheriges Schriftgut kritischer beleuchtet, hätte man mit seiner Diktaturaffinität durchaus rechnen können. Antifaschistische Autoren äußern sich pikiert. Bertolt Brecht ist enttäuscht, über den schnellen Fall des guten Unwissenden. In Zweifel gezogen wird nicht Kraus‘ grundsätzliche humanistische Integrität, sondern seine politische Urteilsfähigkeit.

Karl Kraus starb am 12. Juni 1936, sein Grab befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof. Was bleibt von diesem außerordentlichen Kulturmenschen? Eine enorme Sprachkompetenz, eine luzid-sprachgewaltige Literatur, die auch heute noch unter die Haut geht. Die große Politik hingegen war ihm, Karl dem Großen, wohl des Öfteren zu groß. Walter Benjamin würdigt ein Werk, das vom Scheitern des passionierten politischen Kommentators, insbesondere seines bedenklichen Zugangs zu Demokratie und Rechtsstaat, nicht allzu sehr überschattet ist: Kein Posten ist treuer gehalten worden und keiner war je verlorener…

Illustration: Cover_Karl Kraus_Handbuch.jpg

Text unter Cover: Vom Autor unlängst zum Thema: Parteipolitik. In: Katharina Prager/Simon Ganahl, Karl Kraus Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Springer-Verlag, Berlin 2022).

Quelle „Der Sozialdemokratische Kämpfer 1_2_3_2024“
Hier geht es zur gesamten Ausgabe

Hinterlasse einen Kommentar