Am 12. Oktober 1930 feiert das Rote Wien die offizielle Eröffnung seines prestigeträchtigsten Bauwerkes – des Karl-Marx-Hofes. Die Eröffnungsrede hält Bürgermeister Karl Seitz, von dem das Zitat überliefert ist: „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“.
Die Errichtung dieses „Superblocks“ ist von einer regelrechten Medienkampagne der christlich-sozialen Reichspost begleitet. Nachdem der kommunale Wohnbau eine enorme Werbewirksamkeit zugunsten der Wiener Sozialdemokratie entfaltet, agitiert das bürgerliche Lager mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen. In publizistischen Kampagnen werden der Mieterschutz, die Wohnbau- und andere sogenannte „Breitner-Steuern“ diffamiert und die angebliche qualitative Unzulänglichkeit der Gemeindebauten angeprangert.
„Katastrophale Baugebrechen“
Bereits am 21. Oktober 1927, also ein Jahr nach Baubeginn, erscheint eine „Extra-Ausgabe“ der Reichspost, die in riesigen Lettern verkündet:„Große städtische Neubauten gefährdet!“ Angeblich seien bei dem „Riesenbau in der Heiligenstädterstraße“ „katastrophale Baugebrechen festgestellt“ worden. So hätten sich „die Haupt- und Mittelmauern in einer Ausdehnung von 100 Metern bis zur Einsturzgefahr gesenkt“. Zur weiteren gezielten Panikmache heißt es am Ende des Artikels lapidar: „Bisher konnte nicht erhoben werden, wie viele Wohnungsbauten der Gemeinde Wien nach diesem verfehlten Bausystem aufgerichtet wurden. Nach fachmännischem Gutachten bedeuten alle Häuser, die auf diese Weise erbaut wurden, eine öffentliche Gefahr.“
Eine „außerordentliche Depression“
Am selben Tag kommt es auch im Wiener Gemeinderat zu einer erbittert geführten Debatte. Der angegriffene Bürgermeister Karl Seitz erklärt: „Ich weiß nicht, warum Sie mich immer apostrophieren. Ich kann nur sagen, daß von der Gemeinde kein Bau übernommen wird, bevor nicht alle Garantien und alle Sicherheiten gegeben sind, daß der Bau richtig hergestellt wird“, und so konzentriert sich die Arbeiter-Zeitung in ihrer Berichterstattung auf die technischen Ausführungen des Stadtbaudirektors Dr. Musil, der seine Erläuterungen damit abschließt, dass „gar keine Veranlassung zur Beunruhigung vorliegt. Es ist auch unrichtig, daß bei den städtischen Bauten auf Kosten der Sicherheit mit Material gespart werde oder schlechtes Material genommen wird.“
„Der Fluch der bösen Tat“
Tags darauf legt die Reichspost nach: „Ueber die Mietkasernenbauten der Gemeinde Wien senken sich die Schatten des Todes.“ Die Rede ist von „fanatischer, weil parteipolitischer Drauflosbauerei“ und von „riesigen Summen der Steuerzahler“, die auf dem Spiel stünden. „Schuldig ist das System dieser beispiellosen Zinskasernenbauerei, schuldig ist die falsche Wohnpolitik der Rathausmarxisten, die es sich in den Kopf gesetzt haben, die Natur durch himmelblaue (sic!) Doktrinen zu vergewaltigen.“
Völlig konträr, aber wie üblich etwas ironisch-distanziert, berichtet naturgemäß die Arbeiter-Zeitung vom 22. Oktober 1927 über diese „Lügen und Übertreibungen…“: „[…] man merkt es der edlen Seele an, wie glücklich sie wäre, wenn bei irgendeinem Gemeindebau wirklich etwas Ernstes passierte! Sie würde wohl jubeln, wenn ein Bau wirklich einfiele!“
Weniger Zurückhaltung als die Arbeiter-Zeitung übt das sozialdemokratische Massenmedium Das Kleine Blattvom 22. Oktober 1927. „Ein Hagel von Gasbomben“, heißt es da, „ist gestern über Wien niedergegangen. Das Regierungsorgan des Prälaten Seipel hat in Extraausgaben Nachrichten verbreitet, als würden die Wiener Neubauten vor dem Einsturz stehen.“ Und weiters: „Niederträchtiger war noch nie die Wiener Bevölkerung belogen worden, und wir scheuen uns nicht zu sagen, daß die Männer der ‚Reichspost’ unverzüglich verhaftet und ins Kriminal gesetzt gehören.“
Die bürgerlich-liberale Neue Freie Presse kalmiert ihre Leser: „Wir glauben, daß es unrichtig ist, die Angelegenheit der Bauschäden zu Alarmschreien zu benutzen. Von kompetenter technischer Seite wird versichert, daß keine Katastrophe drohe…“
Ein Triumpf
Die Bauarbeiten werden fortgeführt, die technischen Probleme, die das übliche Maß eines Bauwerkes dieser Größe nicht übersteigen, können zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst werden. 1929 fasst die Wiener Stadtverwaltung den Entschluss, die seit 1919 bestehende Karl-Marx-Straße, einen kleinen Straßenzug der heutigen Hütteldorfer Straße, aufzulassen und dafür den Hof in Heiligenstadt nach dem „Gottseibeiuns“ der Konservativen, nach Karl Marx zu benennen. Was für eine Provokation!
Am Tag der Eröffnung berichtet sozialdemokratische Das Kleine Blatt von der „Vorfeier“: „Rund zehntausend Fenster, sowohl an den Außenfronten, als in den Höfen, waren mit roten Glühlampen und Lampions beleuchtet. Unübersehbare Lichterreihen und tausende Fahnen und Fähnchen verbreiteten freudige Stimmung, die noch gesteigert wurde, als die sangesfrohe Jugend mit hunderten flatternden Fahnen aufmarschierte und rings um die Gartenanlagen des Karl-Marx-Platzes Aufstellung nahm. Dieser Platz, der so groß ist, daß man das ganze Wiener Rathaus hineinstellen könnte, und die Riesenhöfe, in denen die neue Burg, die Stephanskirche, die Oper und noch andere Riesengebäude bequem untergebracht werden könnten, waren ein einziger Festplatz.“
Auch die Arbeiter-Zeitung lässt sich von den roten Lampions bezaubern – „Ihr zartes Licht sammelt sich in der kilometerlangen Vielfalt zu einer großartigen Intensität der Farbe und Helligkeit“ – und zitiert aus der Rede des Schulreformers Otto Glöckel: „Früher wurden Schlösser und Burgen gebaut für die Unterdrücker des Volkes, es waren Adels- und Ritterburgen; heute entstehen Burgen des Volkes, auch das ist ein Zeichen der Demokratie, ein Zeichen des Erwachens.“ „Auf dem ganzen Platz verständlich gemacht“ hat, so Das Kleine Blatt, die Ansprache übrigens „ein Riesenlautsprecher des Arbeiter-Radiobundes.“ Eine Straßenbahnerkapelle beendet die schöne Feier. Anschließend begibt sich der Bürgermeister mit seinem Tross auf einen Rundgang durch die Höfe, „überall jubelnd begrüßt.“
Hervorgehoben werden in der medialen Berichterstattung auch die gemeinschaftlichen Einrichtungen: „Zwei große Kindergärten sind vorhanden, zwei große Zentralwäschereien mit den modernsten elektrisch geheizten und betriebenen Wäschereimaschinen und Heißwasserspeichern. Hier gibt es keinen Ruß und keinen Staub. Die Mühe eines Waschtages ist auf zwei Stunden zusammengedrängt. Zwei Badeanlagen, eine Schulzahnklinik, eine Bibliothek, ein Jugendheim sind die wichtigsten gemeinschaftlichen Einrichtungen für alle Bewohner dieses Hauses. […] Auch die Kunst hat ihren Ehrenplatz im neuen Wien, aber diese Kunst verherrlicht nicht mehr wie in früherer Zeit die Wappen ausbeuterischer Aristokraten, sie liefert nicht mehr die Sinnbilder der Herrschaft einzelner über das ganze Volk. Die vier Riesenfiguren an der Hauptfassade des Karl-Marx-Hofes sind Sinnbilder des Geistes unserer Zeit…“ schreibt Das Kleine Blatt am 10. Oktober 1930.
Marxismus aus Ziegel und Zement
Der Karl-Marx-Hof verfügt bei seiner Eröffnung über 1.382 Wohnungen für etwa 5.000 Menschen. Darüber hinaus gibt es in dieser „austromarxistischen Stadt in der Stadt“ zwei Zentralwäschereien mit 62 Waschständen, zwei Bäder mit 20 Wannen und 30 Brausen, zwei Kindergärten, eine Zahnklinik, eine Mutterberatungsstelle, eine Bibliothek und ein Jugendheim, ferner ein eigenes Postamt, eine Krankenkasse mit Ambulatorium, eine Apotheke und 25 weitere Geschäftslokale.
„Wiener, geht heute nach Heiligenstadt und schaut euch dieses‘eingestürzte Gebäude’ mit euren eigenen Augen an! Geht hin, überzeugt euch mit euren eigenen Augen, wie die Antimarxisten lügen, und urteilt dann selbst über den Marxismus und den Antimarxismus! […] Marxismus – seht! –, das ist die Befreiung der Wohnung, der Sonne, der Luft und des Lichtes von der Spekulation und Ausbeutung. Erinnert euch, wie es war, bevor der Marxismus Einfluß und Macht hatte? Da war Wohnung, Licht und Luft eine Ware wie jede andere, mit welcher Spekulanten spekulierten, Wucherer sich bereicherten, aus welcher Kapitalisten ein arbeitsloses Eigentum erpreßten. Das ist nun anders.
Wohnung, Licht, Sonne sollen keine Ware sein; mit dem Bedürfnis des Menschen nach gesundem Wohnen soll kein Mensch mehr Geschäfte machen. Wohnungen sollen vom Gemeinwesen errichtet, vom Gemeinwesen verwaltet und den Bedürftigen zugeteilt werden. Der Karl-Marx-Hof – schaut! –, das ist ein Stück Marxismus!“Soweit noch einmal Das Kleine Blatt vom 12. Oktober 1930.
Mehr als „nur“ Wohnungen!
Die sozialdemokratisch geführte Gemeindeverwaltung errichtet während der Ersten Republik insgesamt etwa 380 Wohnbauten mit knapp 65.000 Wohnungen. Der kommunale Wohnbau im Roten Wien ist jedoch weit mehr als „nur“ Wohnraumbeschaffung: „Beim Wohnhausbau soll nicht nur an die Sicherung des Obdaches, sondern auch an die körperliche und seelische Gesundheit und an den kulturellen Aufstieg der Bevölkerung gedacht werden.“ Hier kommt die von den Austromarxisten propagierte Anwendung des Marxismus auf das tägliche Leben am sichtbarsten zum Ausdruck – der Wohnbau als ein „Werkzeug“ zur Schaffung eines „Neuen Menschen“, einer politisch gebildeten, selbstbewussten Arbeiterschaft.
Eine berühmte Bewohnerin des Karl-Marx-Hofes ist Marie Jahoda, die Autorin der 1933 erschienenen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, einem Klassiker der empirischen Sozialforschung und der ersten Studie, die sich mit dem Folgen langanhaltender Arbeitslosigkeit beschäftigt. Die aus einem gutbürgerlichen jüdischen Elternhaus stammende Jahoda ist, ebenso wie ihr Mann, Paul Felix Lazarsfeld, eine glühende Austromarxistin und engagiert sich seit ihrer Jugend in der Sozialdemokratie. 1929 bezieht das junge Paar eine Wohnung im Karl-Marx-Hof: „Wir hatten ein Wohnzimmer, ein kleines Schlafzimmer, eine kleine Küche, eine Dusche und einen Balkon. […] Es gab auch eine hauptsächlich von Ehrenamtlichen betreute zentrale Leihbibliothek. Ich war an zwei Abenden in der Woche dort, gab Bücher aus, empfahl Bücher, die ich lesenswert fand, schloß Freundschaften und gewann Parteimitglieder.“
Niemand hat das damalige Lebensgefühl im Roten Wien eindrücklicher beschrieben als Marie Jahoda: „Als ich allmählich zum Bewusstsein der sozialen Welt außerhalb des Elternhauses erwachte, stand die sozialdemokratische Bewegung in Wien auf ihrem sozialen, intellektuellen und kulturellen Höhepunkt. Trotz Wirtschaftskrise, Inflation und Arbeitslosigkeit war diese Massenbewegung, deren Grundlage der Austromarxismus war, erfüllt von einem Geist der Lebensbejahung, der – wie ich glaube – im 20. Jahrhundert keine Parallele hat. […] Von den Wohnbauten zu den Arbeitersymphoniekonzerten, von der Schulreform zum Schilaufen, von den Kinderkolonien zum Kaninchenzüchten, tatsächlich von der Wiege bis zum Grab, hat die Bewegung das Leben von Hunderttausenden bereichert.“
Literatur:
Marie Jahoda, Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich, in: Zeitgeschichte8/4, 1981:133-141.
Text und Bilder: http://der-rote-blog.at/ein-besserer-triumpf-des-willens
Beitragsbild: Von C.Stadler/Bwag – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42828312