Karl Kraus (1874–1936): Zwischen Sprachgewalt und politischer Ohnmacht
Am 28. April 2025 jährt sich zum 151. Mal der Geburtstag von Karl Kraus – einem der bedeutendsten, aber auch widersprüchlichsten Intellektuellen der österreichischen Moderne. Als Satiriker, Sprachpurist und Herausgeber der legendären Zeitschrift Die Fackel war er ein moralischer Seismograf seiner Zeit. Seine Polemik war messerscharf, seine Wirkung gewaltig – und doch blieb sein Verhältnis zur Demokratie und zur politischen Moderne bis zuletzt ambivalent.
Karl Kraus wurde 1874 im böhmischen Jičín geboren und wuchs ab 1877 in Wien auf – in einer großbürgerlichen, jüdischen Familie. Nach einem abgebrochenen Jurastudium wandte er sich dem Schreiben zu. Schon früh profilierte er sich als Kritiker der Wiener Kaffeehausliteratur und als Gegner der literarischen Eitelkeit. Sein 1899 gegründetes Periodikum Die Fackel entwickelte sich rasch zur stilprägenden Plattform für eine radikale, oft erbarmungslose Zeitkritik – gegen Journalismus, gegen Opportunismus, gegen die Verwahrlosung der Sprache. Ab 1912 war Kraus Alleinautor; was in der Fackel stand, stammte aus seiner Feder. Sein Stil war einzigartig – eine Mischung aus Pathos, Ironie und kompromissloser Klarheit.
Besondere Bedeutung erlangte Kraus während des Ersten Weltkriegs. In einer Zeit, in der viele Literaten sich von nationalistischer Kriegsbegeisterung vereinnahmen ließen, blieb Kraus standhaft. Mit dem Drama Die letzten Tage der Menschheit (1918–1919), einer monumentalen Collage aus Originalzitaten, Berichten und Dialogen, schuf er eines der wirkmächtigsten Antikriegswerke der deutschsprachigen Literatur. In dieser Collage aus Wahnsinn und Verblendung, Propaganda und Blutvergießen zeigt sich Kraus als moralischer Chronist, der seine Leser nicht schont, sondern mit der hässlichen Fratze der Wirklichkeit konfrontiert.
Doch nicht nur das Kriegsgeschehen, auch das politische und publizistische Treiben der Zwischenkriegszeit wurde von Kraus mit Wucht kritisiert. Seine Attacken gegen korrupte Journalisten, kriegshetzende Dichter und politische Strippenzieher waren scharf, oft vernichtend. Der Wiener Boulevardverleger Imre Békessy wurde durch Kraus‘ berühmten Aufruf „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ zur Flucht getrieben. Den Polizeipräsidenten Johann Schober prangerte er öffentlich an, als dieser nach der brutalen Auflösung der Justizpalast-Demonstration 1927 für 89 Tote mitverantwortlich war. In diesen Momenten zeigte Kraus eine Nähe zu sozialdemokratischem Engagement, einen Impuls zur Gerechtigkeit, der tief in seiner Abscheu gegenüber der Gewalt wurzelte.
Und doch war Kraus kein verlässlicher Alliierter des Fortschritts. Seine politische Haltung war – besonders aus heutiger sozialdemokratischer Sicht – nicht ohne schwerwiegende Brüche. Trotz seiner zutreffenden Kritik an der nationalsozialistischen Barbarei in der Dritten Walpurgisnacht, einem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten, prophetischen Text gegen Hitler und Goebbels, zeigte er in den Jahren 1933/34 eine befremdliche Sympathie für die austrofaschistische Diktatur unter Engelbert Dollfuß. Kraus, der sich als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus verstand, glaubte in Dollfuß einen „Retter aus großer Not“ zu erkennen – ein Irrtum, der seine politische Urteilskraft in Zweifel zog. Bertolt Brecht reagierte enttäuscht, Walter Benjamin sprach vom „Scheitern des passionierten politischen Kommentators“.
Auch Kraus‘ Haltung zur Frauenemanzipation war rückwärtsgewandt, sein Ton oft autoritär und patriarchal. Er stand dem sich entwickelnden demokratischen Rechtsstaat distanziert gegenüber und blieb letztlich ein Einzelgänger, ein moralischer Solist ohne politisches Zuhause. Seine Kritik war punktuell brillant, aber systemisch oft kurzsichtig.
Gleichwohl bleibt sein Einfluss auf das intellektuelle Klima der Zeit unbestritten. Kraus war ein Sprachzauberer. Sein Kampf gegen die Phrase, seine Verteidigung der Sprache als moralisches Medium und seine unermüdliche publizistische Arbeit haben Generationen von Schriftsteller*innen geprägt – darunter Elias Canetti, der Kraus eine „kristallne Stimme“ nannte, oder Georg Trakl, der ihn „Zürnender Magier“ nannte.
Karl Kraus starb am 12. Juni 1936 in Wien. Sein Grab auf dem Zentralfriedhof ist schlicht, aber sein literarisches Erbe bleibt monumental. Kraus war, mit all seinen Widersprüchen, ein Gewissen seiner Zeit – ein Unbestechlicher, dessen Sprache auch heute noch trifft. Doch gerade aus sozialdemokratischer Sicht darf man ihn nicht unkritisch verehren. Seine Vision reichte nicht immer über den Satz hinaus, sein Engagement war oft ästhetischer Natur, seine Haltung zur Demokratie schwankend. Was bleibt, ist ein grandioser Stilkritiker – aber kein verlässlicher politischer Kompass.
Quelle „Der Sozialdemokratische Kämpfer 1_2_3_2024“
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Bild: Gemeinfrei: Anonym – http://www.quotecollection.com/image-view.php?img=karl-kraus-3.jpg gefunden unter https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Kraus#/media/Datei:Karl_Kraus.jpg