„Freiheit besteht im Fehlen vom Zwang, Böses zu tun“, so hielt Tolstoi es 1851 in seinem Tagebuch lapidar fest. Das Wort Böse enthält eine normativ moralische Wertung, die Tolstoi in dem Sinne vermutlich nicht beabsichtigte. Ihm ging es viel mehr um eine Beschreibung einer Gesellschaft, in der gesetzwidriges und unangepasstes Verhalten, Delinquenz und Devianz sich als Akte der Notwehr äußern.
Denjenigen Menschen, die im Ringen um ein erträgliches, den Lebensunterhalt sicherndes Auskommen im Nationalsozialismus straffällig wurden und in Folge in Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden, widmet Frank Nonnenmacher den vorliegenden Band. Er versammelt, neben Beiträgen zur historischen Kontextualisierung, zwanzig Schicksale von Menschen, die im NS-Staat als „Asoziale“ bzw. „Berufsverbrecher“ verfolgt und mehrheitlich ermordet wurden. Besonders ist dabei, dass die Nachkommen der Verfolgten die Geschichten ihrer Familienmitglieder selbst und in eigenen Worten schildern. So wird den LeserInnen nicht nur begreifbar, wie schwer und kompliziert sich die Recherche zu den verfolgten Familienangehörigen häufig gestaltete, sondern auch, wie wirksam und mächtig die Mechanismen der Stigmatisierung bis heute sind. Die Lektüre gerät daher doppelt berührend: Einmal durch die Schilderung der grausamen Schicksale und dann durch die Feststellung, dass die fehlende Anerkennung der Opfer die Erfahrung der Nachfahren bis heute fragmentiert und teils sogar in offene Brüche in den heutigen Familien führt.
Was in Deutschland im Februar 2020 geschah beschloss der Nationalrat erst im Juni 2024, nämlich die Anerkennung der von den Nationalsozialisten als „Asoziale und Berufsverbrecher Verfolgten“ als Opfergruppe. Die vorgestellten Schicksale zeigen, wie tief die Scham und Angst vor Diskriminierung bei den Betroffenen saß, wie sie sie zum Schweigen brachte und damit um zumindest finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht. Österreich wie Deutschland ersparen sich allfällige Entschädigungsleistungen, weil schlichtweg kaum noch jemand mit Anspruch auf Entschädigung am Leben ist.
Wie im Buch einleitend herausgestellt wird, hat allerdings nicht nur die politische Ebene der BRD die als „asozial“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten viel zu lange nicht anerkannt. VVN-Repräsentanten in den Wiedergutmachungs- und Entnazifizierungsausschüssen nach dem Krieg haben diese Opfergruppen nicht als Verfolgte anerkannt und sie nicht bei ihrem Kampf um Anerkennung und Wiedergutmachung unterstützt (das galt auch für die NS-Opferverbände in Österreich, Anm.). An der nach Kriegsende, bis heute weiterexistierenden Diskriminierung und Stigmatisierung der dieser Gruppe zugehörigen Verfolgten war man damit aktiv beteiligt. Eine Entschuldigung für dieses Verhalten steht bis heute aus.
Was für antifaschistische Menschen eigentlich selbstverständlich sein sollte, die Feststellung „niemand wurde zurecht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet“ nämlich, war es bis 79 bzw. 75 Jahre nach der Niederlage des Nationalsozialismus nicht – und in Teilen der Gesellschaft ist diese Erkenntnis bis heute nicht verankert. Das äußert sich ganz alltäglich in der häufigen Verwendung des Wortes „asozial“ als Schimpfwort und erfährt seine Zuspitzung in der Forderung der AfD, den „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ „nicht eine Art Generalamnestie“ zu gewähren. Kein Mensch wurde zurecht ins KZ verschleppt, denn sie alle wurden ohne richterliche Anordnung, ohne die Möglichkeit zur Anfechtung, ohne das Vorliegen konkreter Straftaten, ohne zeitliche Befristung willkürlich ihrer fundamentalen Menschenrechte beraubt. Das System hinter diesem von Nonnenmacher zurecht als „typisch nationalsozialistisches“ bezeichneten Unrecht wird von Julia Hörath in einem dem biographischen Teil vorangestellten Betrag eindrucksvoll und akribisch erläutert. Sie stellt fest, „dass es sich gar nicht um ein spezifisch nationalsozialistisches Denken handelte“, sondern die Wurzeln der nationalsozialistischen Verfolgung von Menschen als „asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ zurückreichen bis in die Zeit der Weimarer Republik und des Kaiserreiches. Das ist die Grundlage der Erkenntnis, dass die Verachtung von sich delinquent oder deviant verhaltenden Menschen sich im Nationalsozialismus radikalisierte und im Bestreben des Erschaffens eines „gesunden Volkskörpers“ zur Vernichtungspolitik führte. Gleichzeitig bietet sie Erklärungsansätze für die Scham und Angst der Betroffenen vor erneuter Diskriminierung. Die Alliierten hatten zwar die Deutschen besiegt, aber eben nicht die ideologischen Komponenten, mit denen ihre Verfolgung begründet worden war. Eben weil diese ideologischen Komponenten nicht spezifisch nationalsozialistisch waren, sondern Teil der staatlichen „autoritär-repressiven Wohlfahrts- und Strafrechtspflege“ und dem modernen Standard entsprachen, hielten sie sich auch im post-nationalsozialistischen Deutschland und Österreich – bis heute.
Kristin Caspary, Erstveröffentlichung antifa Mai/Juni 2024
Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“, Campus, Frankfurt / New York, 2024, ISBN 9783593518381, 372 Seiten, € 29,00
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Der Dank für den Text und die Bilder geht an den Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen,
Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen. Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden sich hier: http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2024/12/Kaempfer-10-11-12-2024.pdf