War die Erste österreichische Republik eine „Demokratie ohne Demokraten“? Dieser Frage geht ein gleichnamiges Buch nach, das die Demokratieverständnisse in den politischen Parteien der Ersten Republik zwischen 1918 und 1934 analysiert und welches heuer im v&r unipress-Verlag erschien.
Der kleinste gemeinsame Nenner im Demokratieverständnis der Regierungsparteien im Laufe der Ersten Republik – Sozialdemokraten, Christlichsoziale, Großdeutsche, Landbund und Heimwehren/Heimatblock – war, dass Demokratie als die Herrschaft des Volkes und dessen Selbstbestimmung verstanden wurde. Doch bei der Frage, wie die Herrschaft des Volkes ausgeprägt sein sollte, herrschte große Uneinigkeit.
Hans Kelsen, der „Architekt“ des Bundesverfassungsgesetzes von 1920 ging davon aus, dass das Volk nur auf juristischer, verfassungsrechtlicher Ebene existiere und es keinen natürlichen Volkswillen gebe. Daher könne ein Volkswille gar nicht repräsentiert werden, aber es sei eine Repräsentation notwendig, um einen Staatswillen zu erzeugen. In Vertretung des Volkes erzeuge das Parlament einen eigenen Willen.
Innerhalb der Parteien wird „Volk“ als eine tatsächlich existente Größe gesehen, weswegen es auch einen Volkswillen gebe. Insbesondere laut bürgerlichem und deutschnationalem Lager existiere das Parlament nicht, um den Volkswillen zu bilden, sondern um denselben abzubilden. Somit entsteht zwangsläufig eine Differenz zwischen Repräsentanten und den Repräsentierten und die Repräsentationsfunktion könne auch von anderen Repräsentanten als dem Parlament erledigt werden. Bei den Sozialdemokraten repräsentierte wiederum die existente Demokratie der Ersten Republik eine defizitäre beziehungsweise eine formale, politische Demokratie, da in dieser keine ökonomisch-soziale Gleichheit innerhalb des Volkes existiere, da das arbeitende Volk von der Bourgeoisie unterdrückt werde. Es müsse somit eine bessere oder ideale Form der Demokratie geschaffen werden, in der das arbeitende Volk/das Proletariat nicht ausgebeutet werde.
Die Sozialdemokraten sahen das Ideal in der „sozialen Demokratie“, in der sämtliche Klassengegensätze aufgehoben seien und unter dem Volk nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Gleichheit existiere. Die vorhandene Demokratie der Ersten Republik diene als Kampfboden, um diese soziale Demokratie bevorzugt über die „proletarische Demokratie“ durchzusetzen. Die „Diktatur des Proletariats“ als nichtdemokratisches System zeitigte eine Regierungsform defensiven Charakters, die angewandt werden müsse, sofern die Bourgeoisie versuche, die bereits eingerichtete proletarische Demokratie als Wille der Mehrheit des Volkes mit Gewalt zu zerstören. Otto Bauer prägte neben diesem defensiven Begriff auch einen präventiven Diktaturbegriff, welcher durch einen Präventivschlag des Proletariats gekennzeichnet ist, sofern die Bourgeoisie versuchen werde, die Diktatur der Bourgeoisie zu erobern, wenn die demokratischen Institutionen nicht mehr funktionierten und das Proletariat und die Bourgeoisie nicht stark genug seien, die Macht mittels Demokratie zu erobern. Dieser Begriff schaffte es allerdings im Gegensatz zum defensiven Begriff nicht in das Linzer Programm von 1926. In den ersten Jahren der Ersten Republik unterstützten die Christlichsozialen die „freie demokratische Republik“ als „wahre Demokratie“ ohne „Herrschaft der Juden“ sowie mit einem starken Parlament. Insbesondere wegen der schwierigen Verhandlungen im Hinblick auf die Genfer Protokolle (1922, Sanierung der österr. Währung, Anm.) änderte sich bei den Christlichsozialen jedoch das Ideal der wahren Demokratie: Es wurde immer stärker eine autoritative Stärkung des Bundespräsidenten, eine Schwächung des Parlamentes sowie eine Reduzierung der Macht der Parteien gefordert. Mit der Weltwirtschaftskrise und der „Enzyklika Quadragesimo Anno“ von Papst Pius XI. von 1931 wurden die Rufe nach berufsständischer Vertretung immer lauter.
Die wahre Demokratie bei der Großdeutschen Volkspartei war die „nationale Demokratie“ auf der Basis der deutschen „Volksgemeinschaft“ ohne Juden, während der bäuerlich-deutschnationale Landbund die „wahre Volksherrschaft“ in einer „ständischen Demokratie“ mit starkem Staatsoberhaupt, aber unter Ablehnung der „parlamentarischen Parteiendemokratie“ sah. Die Heimwehren wiederum wollten den ständisch geprägten faschistischen Heimwehrstaat als „wahre Demokratie“ einrichten.
Die ständige Kritik an der existenten Verfassungsordnung und die Konzeption von besseren und idealen Demokratien führten zu einem massiven Legitimationsdefizit des politischen Systems der Ersten Republik, sodass auch die Bevölkerung nicht mehr wusste, was der demokratische Weg eigentlich repräsentierte. Es fehlte an Parteieliten, welche die existente demokratische Ordnung der Ersten Republik bedingungslos unterstützten.
Hanno Rebhan
Foto: Parlament_1919.jpg Credit: ÖNB / Richard Hauffe
Fototext: Demonstration vor dem Parlament 1919
Der Dank für den Text und die Bilder geht an den Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen,
Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen. Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden sich hier: http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2024/12/Kaempfer-10-11-12-2024.pdf