Amerikanerin – Revolutionäre Sozialistin – Philantropin
Helen Muriel Morris wurde 1901 als viertes Kind wohlhabender Eltern in Chicago geboren. Im Alter von elf Jahren organisierte Muriel eine Suffragetten-Demonstration. Später studierte sie englische Literatur in Europa.
1926 wollte sie sich in Wien von Sigmund Freud analysieren lassen. Freud verwies sie jedoch an Dr. Ruth Mack, verheiratete Brunswick. In Wien heiratete Muriel den Engländer Julian Gardiner. Nach kurzer Ehe und der Geburt der Tochter Connie trennte sich das Paar wieder. Connie blieb bei Muriel. Um selbst Psychoanalytikerin werden zu können, studierte Muriel in Wien Medizin.
Am 12. Februar 1934 erlebte sie, wie Österreich unter Engelbert Dollfuß in den Bürgerkrieg stürzte und die SDAP verboten wurde. Schnell entschloss sie sich, die Sozialisten in ihrem Kampf gegen das autoritäre Dollfuß-Regime und das aufkommende NS-Regime zu unterstützen. Sie kam in Kontakt mit dem politisch erfahrenen, ehemals kommunistischen, Ehepaar Ilse und Leopold Kulczar (Kulcsar) und deren „Gruppe Funke“. Obwohl das Ehepaar von ihren Vereinsmitgliedern die Einhaltung konspirativer Regeln verlangte, verhielten sie sich selbst unbekümmert. Als sie enttarnt wurden, musste sie Muriel in einer Nacht- und Nebelaktion mit falschen Pässen ausstatten.
Unter dem Decknamen Mary unterstützte Muriel nun die RS, half mit finanziellen Zuwendungen, unterzeichnete Bürgschaftserklärungen, um die Flucht nach Amerika zu ermöglichen, organisierte Treffen in ihrem Haus in Sulz im Wienerwald und stellte ihre Wiener Wohnungen als Verstecke zur Verfügung. Sie hielt Kontakt zu Otto Bauer und dem ALÖS und übernahm Kurierdienste. Unter anderem gelang Manfred Ackermann und seiner Familie die Flucht nach Amerika. Bei den RS lernte Muriel deren Vorsitzenden Joseph Buttinger unter seinem Decknamen Gustav Richter kennen. Nach ihrer Flucht vor dem NS-Regime heirateten sie in Paris und konnten Europa gerade noch mit dem Schiff über Le Verdon verlassen.
In Amerika unterstützte das Ehepaar Gardiner Buttinger die österreichischen Emigranten. Muriel sorgte für Lebensmittel und Unterkünfte und gewährte finanzielle Unterstützungen. Sie wurde eine angesehene Psychoanalytikerin und Joseph Buttinger war von 1945 bis 1947 Europadirektor des IRC („International Rescue Committee“). Beide unterstützten nach 1945 die österreichische Bevölkerung mit „Care-Paketen“, „Colis Swiss“ und Kleidung. Muriel ermöglichte ihrem Mann den Aufbau einer ca. 60.000 Exemplare umfassenden Bibliothek und finanzierte später die Verschiffung von 50.000 Büchern nach Europa. Diese bildeten den Grundstein der neu errichteten Universität Klagenfurt. Muriel Gardiner ermöglichte über ihre Familienstiftung die Errichtung des Freud Museum London in Sigmund Freuds letztem Wohnhaus.
Muriel Gardiner starb am 6. Februar 1985 in Princeton. Joseph Buttinger starb am 4. März 1992 in New York City.
Edith Krisch
Der Dank für den Text und die Bilder geht an den Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen,
Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen. Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden sich hier: http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2024/06/Kaempfer-4_5_6_2024.pdf
Quellen:
Muriel Gardiner, Joseph Buttinger: Damit wir nicht vergessen, unsere Jahre 1934 bis 1947 in Wien, Paris & New York.
Muriel Gardiner: Mörder ohne Schuld, Wenn Kinder töten – Gründe und Hintergründe.
Joseph Buttinger: Das Ende der Massenpartei. Am Beispiel Österreichs.
Illustration: Code Name Mary.jpg
Text zur Illustration: Plakat einer Ausstellung in der AK Kärnten