Der Auf- und Ausbau des Sozialstaats passierte nicht zufällig und auch nicht aus ewiger Einsicht aller Beteiligten in die Vorzüge von einschlägigen Gesetzen. Er war stets das Ergebnis von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
in „Sozialstaat“ wird nicht einfach davon geprägt, dass der Staat Geld almosenartig verteilt. Der Sozialstaat reduziert die Gefahren der zentralen Lebensrisiken im Kapitalismus, also von Krankheit über Arbeitslosigkeit bis zum Elend im Alter.
Ein Sozialstaat versucht allen Menschen gute Chancen auf dem individuellen Lebensweg zu eröffnen – nicht das Elternhaus soll Entwicklungsmöglichkeiten
bestimmen, sondern die persönlichen Interessen und Neigungen. Und der Sozialstaat verteilt weder Gnadenakte, noch verteilt er Wohltaten. Der Sozialstaat schreibt gesetzlich garantierte Rechte der Bürger:innen fest. Erfüllt jemand beispielsweise die definierten Voraussetzungen, dann hat er:sie einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld. Daher muss auch niemand für das Arbeitslosengeld dankbar sein.
Andi Babler wird nicht müde das zu betonen. In den 1880er Jahren wurde in Österreich eine erste (kleine) Welle sozialstaatlicher Gesetze beschlossen. Die Fabrikarbeit für Kinder unter 14 Jahren wurde verboten, ebenso die Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche. Es wurde ein „Maximalarbeitstag“ von elf Stunden festgelegt und auch die verbindliche Sonntagsruhe wurde eingeführt. Schlussendlich wurde in diesem Jahrzehnt eine allgemeine Unfall- und Krankenversicherung etabliert. Für diese gesetzlichen Regelungen lassen sich mehrere Motive festmachen, die Stärke der
Sozialdemokratie war es damals übrigens noch nicht.
Aber die Angst vor dem Erstarken der Arbeiter:innenbewegung spielte eine Rolle. Ebenso wichtig war, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innenklasse so elend waren, dass Arbeitgeber:innen um ihre
zukünftigen Arbeitskräfte fürchteten. Und Generäle um zukünftige Soldaten.
Die ersten entscheidenden Schritte zu einem wirklichen Sozialstaat wurden in Österreich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gesetzt. Die sozialdemokratisch geführte Koalition beschloss 83 Sozialgesetze und -verordnungen, die dem sozialen Gefüge der 1. Republik eine gerechte und demokratischere Struktur geben sollten. Das reichte von der Einführung der Arbeitsämter und der Arbeitslosenunterstützung über die gesetzliche Einführung des Acht-Stunden-Tages, die Arbeiter:innen bekamen einen Rechtsanspruch auf Urlaub und das Betriebsrätegesetz wurde beschlossen. Österreich war mit dieser Politik zwischen 1918 und 1920 sozialpolitischer Spitzenreiter in Europa. Die Stärke der Sozialdemokratie in dieser revolutionären Umbruchphase nach dem Krieg und dem Zerfall der Habsburger-Monarchie ermöglichte diese Gesetze. Nach dem Ende der Koalitionsregierung unter Karl Renner 1920 und dem Erstarken der
Christlich-Sozialen wurde diese Sozialstaatspolitik umgehend beendet. Für den Rest der 1. Republik mussten Sozialgesetze verteidigt werden, ein weiterer Ausbau war nicht mehr möglich.
Die sozialstaatlichen Regelungen der Nazis hatten andere Motive. Die Angriffskriege der Wehrmacht sollten im Hinterland abgesichert werden. Es ging also nicht um ein gutes und sicheres Leben, es ging um die Ermöglichung von Terrorkriegen.
Nach 1945, also nach dem Krieg und nach der Befreiung von den Nazis durch die alliierten Mächte, gab es einen Sozialstaatskonsens zwischen den österreichischen Parteien. Auch die westlichen Siegermächte USA und Großbritannien waren damals von sozialstaatlicher Politik geprägt. In den USA regierten die Roosevelt-Demokrat:innen und in Großbritannien hatte im Juli 1945 die LabourParty mit einem sehr sozialstaatlichen Programm fulminant die Unterhauswahlen gewonnen. 1956 trat das „Allgemeine Sozialversicherungsgesetz“ in Kraft. Damit wurde eine Vielzahl damals bereits existierender einschlägiger gesetzlicher Regelungen in einem Gesetz gebündelt. Alle Fragen der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung für die abhängig Beschäftigten wurden zusammengeführt und die Einführung des ASVG gilt daher als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des österreichischen Sozialstaats.
In den ersten Jahrzehnten der 2. Republik wurde der Sozialstaat kontinuierlich ausgebaut. Getragen wurde dieser von einer entsprechenden Einsicht in die
Sinnhaftigkeit derartiger Regelungen bei faktisch allen Beteiligten. Sowohl die
Vertreter:innen der Arbeitgeber:innen, als auch die Gewerkschaften und auch
die wesentlichen politischen Parteien trugen diesen Sozialstaats-Konsens mit.
Die Jahre von Bruno Kreisky als Bundeskanzler (1970 – 1983) bildeten sicherlich einen Höhepunkt der Sozialstaatsentwicklung. So wurden beispielsweise die Studiengebühren an den Universitäten abgeschafft, die freie Schulfahrt und die kostenlosen Schulbücher wurden eingeführt, das Arbeitnehmerschutzgesetz wurde beschlossen, die Pensionen stiegen deutlich und für die Landwirt:innen wurde eine verpflichtende Pensionsversicherung eingeführt. Die Stellung der Frauen in der Ehe, in den Familien und in der Gesellschaft wurde verbessert. Und diese Auflistung ließe sich lange fortsetzen.
Aber bereits während dieser Kreisky-Jahre begann der sozialstaatliche Konsens in der Gesellschaft zu schwinden, der Neoliberalismus begann das politische Klima zu bestimmen. Mit den Schlagworten „Eigenverantwortung“ und „Eigenständigkeit“ wurde der Sozialstaat unter Druck gesetzt. Weltweit wurden sozialstaatliche Regelungen in den unterschiedlichsten Ländern abgeschwächt oder ganz abgeschafft. In Österreich setzte sich dieser Geist gegen den Sozialstaat nie ganz durch, die großen Regelungen konnten die Neoliberalen nie zu Fall bringen, aber auch hier gab es manche Reduzierungen. Seit mehreren Jahrzehnten gibt es immer wieder die Auseinandersetzung über den Charakter und die Bedeutung des Sozialstaats. Zwar zeigte sich die Bedeutung und die Stärke sozialstaatlicher Maßnahmen bei allen Krisen der vergangenen Jahre – von der Wirtschaftskrise 2009 über Corona bis zur nach wie vor aktuellen Teuerungskrise – und trotzdem werden sozialstaatliche Regelungen in Frage gestellt. Es geht daher jetzt um eine Verteidigung des Sozialstaats, aber auch um einen Ausbau und um die Anpassung an neue gesellschaftliche Verhältnisse. So wie in der Vergangenheit kommt der Sozialstaat nicht von selbst, sondern muss stets und immer wieder verteidigt und weiterentwickelt werden.
„Ein Sozialstaat versucht allen Menschen gute Chancen auf dem individuellen
Lebensweg zu eröffnen.“
„Österreich war mit dieser Politik zwischen 1918 und 1920 sozialpolitischer Spitzenreiter in Europa.“
„Die Jahre von Bruno Kreisky als Bundeskanzler bildeten sicherlich einen Höhepunkt
der Sozialstaatsentwicklung.“
Bernd Dobesberger ist Landesbildungsvorsitzender der SPÖ Oberösterreich sowie stellvertretender SPÖ-Bundesbildungsvorsitzender.