15. Juli 2024: Barbara Hinterleitner: „Aufbruch in einegerechte Arbeitswelt“

Es braucht neue Strukturen für ein gleichberechtigtes Arbeits- und Privatleben –
dafür müssen wir auch das traditionelle Arbeitsbild hinterfragen.

Arbeit und Gesellschaft
Arbeit ist unbestritten ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Lebens, ein guter Teil der persönlichen Identifikation findet über die Art der Beschäftigung, die hierarchische Position und die Entlohnung statt. War Arbeit in der Antike und im Mittelalter noch ein durchwegs negativ besetzter Begriff, konnotiert mit Mühsal, Plage und Last, veränderte sich diese Sichtweise zunehmend mit dem Christentum und vor allem der Industrialisierung.

Marie Jahoda, österreichische Sozialpsychologin und Mitautorin der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, forschte ihr Leben lang zur Bedeutung von Arbeit – und beschränkt den Wert der Arbeit nicht auf die materielle Entlohnung, sondern sieht durch sie grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt. Arbeit gibt dem Leben durch den strukturierten, zeitlichen Ablauf einen festen Rhythmus und erweitert durch
Beziehungen abseits von Familie und Freund:innen den sozialen Horizont. Arbeit offenbart den Wert der Gemeinschaft, definiert die soziale Identität und hält beschäftigt. All diesen Funktionen von Arbeit gelten selbst dann, wenn völlig fremdbestimmte Arbeit verrichtet wird, die kaum als sinnstiftend bezeichnet werden kann. „Arbeit ist das innerste Wesen des Lebendigseins.“ (Marie Jahoda)

Der Wandel der Arbeitswelt
Das traditionelle Bild der Arbeitswelt in der kapitalistischen Industriegesellschaft trennt strikt zwischen Arbeit und Familienleben. Es basiert auf der Vorstellung einer homogenen Belegschaft aus vollzeitbeschäftigten Männern, die keine Verpflichtungen außerhalb des Berufs haben und immer verfügbar sind, während Frauen unbezahlt den Haushalt führen und die Kinder versorgen. Obwohl sich die Gesellschaft stark
verändert hat, bleiben diese Erwartungen an Arbeitnehmer:innen bestehen. Frauen, die vermehrt in den Arbeitsmarkt vordringen, sollen sich an die bestehenden Strukturen anpassen, ohne dass ihre bisher unbezahlte Arbeit berücksichtigt oder ausgeglichen wird. Selbst wenn Frauen theoretisch viele Möglichkeiten offenstehen, treffen sie in der Praxis auf eine Mauer aus Unvereinbarkeit.

Auch die Bewertung von Arbeit ist noch in traditionellen Strukturen verhaftet. Care-Arbeit – also die Pflege des Haushalts, der Kinder und pflegebedürftiger Angehöriger – wird hauptsächlich von Frauen geleistet. Trotz formaler Gleichstellung der Geschlechter spiegelt sich dies nicht in der Arbeitswelt wider: Frauen verdienen im Durchschnitt 19 Prozent weniger als Männer, sind in Führungspositionen und bestimmten Branchen unterrepräsentiert, erleben häufiger Diskriminierung und sexuelle Belästigung – und tragen weiterhin den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit.


Integration von Arbeit und Privatleben
Die Integration von Arbeit und persönlichem Leben – „dual agenda“ – mit besonderem Fokus auf der Gleichstellung der Geschlechter, ist das Forschungsgebiet Lotte Bailyns, Sozialpsychologin, Professor of Management an der MIT Sloan School of Management und Tochter von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld. Bailyns Forschung verbindet Geschlechtergerechtigkeit, Organisationsverhalten und Arbeitspolitik und ist ihrer Zeit weit voraus. Laut Bailyn entsteht Wandel durch die Infragestellung des traditionellen Arbeitsbildes, bei dem Geschlechter- und Familienfragen als völlig unabhängig von der Arbeitsweise betrachtet werden. Ein zentraler Faktor ist die Zeit, die für Arbeit aufgewendet wird. Die Annahme, dass mehr Arbeitszeit gleichbedeutend mit höherer Produktivität ist, sei falsch. Zwölf Stunden Arbeit bedeuten nicht doppelt so viel Output wie sechs Stunden, besonders nicht bei Wissensarbeit. Die aktuellen zeitlichen Anforderungen an Arbeitnehmer:innen basieren eher auf Kontrolle als auf Effektivität.
Bailyn fordert daher eine Neugestaltung der Arbeitswelt, nicht der Familienpolitik. Arbeitsumgebungen sollten auf Vertrauen und Ergebnisorientierung basieren, um sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen als auch die Geschäftsziele der Unternehmen zu erfüllen. Dadurch kann nicht nur die Produktivität und Arbeitszufriedenheit gesteigert, sondern auch ein Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit geleistet werden. „Gerechtigkeit und Effektivität sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich und wirken sogar synergetisch.“ (Lotte Bailyn)

Die Zukunft der Arbeit
Arbeit muss ein zentrales Thema der Gesellschaftspolitik sein. Menschen wollen arbeiten, und zwar sowohl zur materiellen Absicherung als auch wegen der
sinnstiftenden, strukturgebenden und gemeinschaftsstärkenden Tätigkeit. In dieser Arbeitswelt muss der Mensch mit seinen Bedürfnissen als komplexes soziales Wesen wahrgenommen werden. Die Vorstellung, der:die ideale Beschäftigte sei ununterbrochen verfügbar, gehört dringend hinterfragt. Statt mehr Vollzeit, mehr Arbeitsstunden und mehr Opferbereitschaft für wirtschaftlichen Erfolg zu fordern, braucht es Arbeitsumgebungen, die den Lebensrealitäten der Menschen gerecht werden. Gendergerechtigkeit am Arbeitsplatz geht einher mit einem Hinterfragen und Aufbrechen der traditionellen Rollenbilder innerhalb der Familie. Es geht darum, gleiche Chancen für alle Geschlechter zu gewährleisten und strukturelle Hürden abzubauen. Dies erfordert flexible Arbeitszeitmodelle, die es ermöglichen, berufliche und familiäre Verpflichtungen besser zu vereinbaren.
„Es ist nun an der Zeit, den Blick […] auf die Strukturen der Arbeit selbst und auf die institutionellen, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen zu richten, die ihnen zugrunde liegen. Die Herausforderung besteht darin, diese Möglichkeiten – wie widersprüchlich sie sich in ihrer Umsetzung auch erweisen mögen – allen zugänglich zu machen: Männern wie Frauen, und insbesondere denjenigen in weniger privilegierten Positionen.“ (Lotte Bailyn)

„Die Annahme, dass mehr Arbeitszeit gleichbedeutend mit höherer Produktivität ist, sei falsch.“

„Selbst wenn Frauen theoretisch viele Möglichkeiten offenstehen, treffen sie in der Praxis auf eine Mauer aus Unvereinbarkeit.“

„Arbeit offenbart den Wert der Gemeinschaft, definiert die soziale Identität und hält beschäftigt.“

Gendergerechtigkeit bedeutet, das Aufbrechen von traditionellen Rollenbildern und eine tatsächliche Vereinbarung von Familie und Beruf.

Bildungskurier

Barbara Hinterleitner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jahoda-Bauer-Institut
und bearbeitet aktuelle gesellschaftspolitische Themen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik.

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