15. November 2023: „STILLE HELDINNEN UND HELDEN“ IN ÖSTERREICH. DÖW-Neuerscheinung über Retterinnen und Retter von Jüdinnen und Juden

Hilfeleistungen für jüdische Verfolgte in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur waren nach 1945 nicht nur im öffentlichen Gedenken kein großes Thema, sondern auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Der Fokus der Widerstandsforschung lag zunächst auf dem politisch organisierten Widerstand. Ende der 1960er Jahre lenkte die Historikerin Erika Weinzierl erstmals das Interesse auf den – später so bezeichneten – „Rettungs­widerstand“. 1969 erschien die erste Auflage ihres Buches „Zu wenig Gerechte“, das bis 1997 drei weitere Auflagen erlebte.

Durch Auszeichnungsverfahren der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erfuhr man in den folgenden Jahren immer mehr über gerettete Jüdinnen und Juden und ihre HelferInnen. Seit 1963 bis heute wurden insgesamt 112 ÖsterreicherInnen von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Der Ehrentitel „Gerechte/r unter den Völker“ ist die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nichtjüdinnen und Nichtjuden verleiht. Er wird all jenen zuteil, die in den Jahren der NS-Diktatur und während des Holocaust ihr Leben riskierten bzw. ihre Freiheit aufs Spiel setzten, um Jüdinnen und Juden zu retten, ohne dafür eine finanzielle oder materielle Belohnung zu erhalten. Die Zahl der – vielfach anonym gebliebenen – HelferInnen ist zwar höher anzusetzen als die 112 von Yad Vashem anerkannten ÖsterreicherInnen, insgesamt waren es in Österreich aber „zu wenig Gerechte“, die dem NS-Regime trotzten, wie Weinzierl ihre Pionierstudie betitelte.

Gegenüber dem gleichgültigen Wegsehen blieben aktive Hilfeleistungen für verfolgte Jüdinnen und Juden in Österreich die Ausnahme. Seit den 1990er Jahren waren die Publikationen der DÖW-Projektmitarbeiterin Brigitte Ungar-Klein mitverantwortlich
dafür, dass die Rettung von verfolgten Jüdinnen und Juden als Widerstand gegen
das NS-Regime Anerkennung fand. 2019 legte sie ihre Monografie „Schattenexistenz“ vor, worin sowohl die Geschichte der Untergetauchten als auch die Geschichte ihrer HelferInnen nachgezeichnet wird. Das Buch wurde breit rezipiert und
als „Wissenschaftsbuch“ des Jahres nominiert.

Das DÖW hat nun eine weitere Publikation zum Thema „Retterinnen und Retter
von Jüdinnen und Juden in Österreich“ vorgelegt. Der im Berliner Lukas-Verlag
erschienene Band entstand in Kooperation mit der „Gedenkstätte Stille Helden“
(in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand). Die Berliner Institution ist an
das DÖW herangetreten zwecks Realisierung eines Österreich-Bandes im Rahmen
einer seit 2016 herausgegebenen Reihe, in der bisher Länderstudien über Bulgarien,
Italien, Lettland, Litauen, Norwegen, die Niederlande, Rumänien und Weißrussland
erschienen sind.

Fluchthilfe, Retter in Uniform, spontane Hilfe
Der Österreich-Band der Reihe „Stille Helden“ zeigt anhand von zehn Geschichten die unterschiedlichen Hilfsaktionen, die bedrohten und verfolgten Jüdinnen
und Juden in Österreich ein Überleben ermöglichten. In einer 70-seitigen Einleitung ordnet DÖW-Mitarbeiter Manfred Mugrauer die Hilfe für verfolgte Jüdinnen und Juden in den allgemeinen politischen Kontext ein. Er skizziert das jüdische Leben und den Antisemitismus in Österreich vor 1938, die Verfolgung, Entrechtung und Vertreibung der hier lebenden Jüdinnen und Juden, die schließlich in die Ermordung von etwa 66.000 jüdischen Frauen, Männern und Kindern mündete, sowie die verschiedenen Formen der Hilfsaktionen für bedrängte Jüdinnen und Juden.

Hilfe zur Flucht ins Ausland zählte zu den wichtigsten Möglichkeiten, bedrohten Jüdinnen und Juden zur Seite zu stehen. Das Spektrum reichte von Hilfestellungen bei
der Auswanderung, also bei der Beschaffung von Visa oder der Unterstützung mit
dafür erforderlichen finanziellen Mitteln, bis zur Hilfe beim illegalen Grenzübertritt.

Zwei Beiträge des vorliegenden Bandes haben die Fluchthilfe ins Ausland zum Thema: Am Beispiel des „Passeurs“ Meinrad Juen schreiben Edith Hessenbeger und Michael Kasper (Ötztaler Museen in Tirol) über illegale Grenzübertritte von Vorarlberg in die Schweiz. Juen verhalf im Vorarlberger Montafon Dutzenden Jüdinnen und Juden zur Flucht, nachdem die Grenze zur Schweiz Ende August 1938 für österreichische Flüchtlinge ohne gültiges Visum geschlossen worden war. Juen wurde im Oktober 1942 festgenommen, konnte aber flüchten und sich bis Kriegsende versteckt halten.

Gabriele Anderl behandelt in ihrem Text die kontrovers eingeschätzten Aktivitäten des Wiener Geschäftsmanns Berthold Storfer, der die illegale Auswanderung von mehr als 9.000 Jüdinnen und Juden nach Palästina initiierte. Storfer organisierte dazu Donauschiffe bis ans Schwarze Meer und von dort Hochseeschiffe über das Mittelmeer nach Palästina, und wurde dabei von der nationalsozialistischen „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ geduldet bzw. sogar gefördert. Storfer selbst wurde Ende 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Anderl würdigt ihn in ihrem Text im Spannungsfeld von „Retter“ und „NS-Kollaborateur“.

Nicht alle Rettungsaktionen, an denen ÖsterreicherInnen beteiligt waren, fanden in Österreich statt. Der Beitrag von Winfried R. Garscha hat Hilfsaktionen jener Österreicher zum Thema, die in den besetzten Ländern als Soldaten oder als Leiter von Fabriken ihre Stellung dazu nutzten, bedrohte Jüdinnen und Juden zu unterstützen. Solche „Retter in Uniform“ waren etwa der Feldwebel Anton Schmid aus Wien und der Polizeiwachtmeister Oswald Bouska. Schmid war ab 1941 im litauischen Wilna stationiert, von wo er etwa 200 bis 300 Jüdinnen und Juden nach Weißrussland transportieren konnte, was ihnen das Überleben sicherte. Schmid wurde dafür zum Tode verurteilt und im April 1942 hingerichtet. Garscha würdigt auch den Fabriksleiter Julius Madritsch, der als „österreichischer Oskar Schindler“ bekannt geworden ist. Madritsch schützte gemeinsam mit Reinhard Titsch polnische Jüdinnen und Juden vor der Deportation und Ermordung, indem er sie in seinen Textilbetrieben im besetzten Polen beschäftigte. Manche der „Gerechten“ retteten einen einzigen Menschen, im Falle
von Anton Schmid, Oswald Bouska und Julius Madritsch waren es sogar mehrere
hundert.

Ein weiteres Feld sind spontane Hilfsaktionen für Jüdinnen und Juden, die es in den letzten Kriegsmonaten nicht nur in Wien, sondern im Zusammenhang mit dem Einsatz ungarisch-jüdischer ZwangsarbeiterInnen und den „Todesmärschen“ im März und April 1945 auch in zahlreichen Landgemeinden gab. Eine solche spontane Rettungsaktion in St. Peter in der Au (Bezirk Amstetten) beschreibt Eleonore Lappin-Eppel. In der niederösterreichischen Gemeinde wurden im Februar 1945 23 ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen versteckt und vor der Deportation bewahrt. Eine der beiden Retterinnen, Anna Rohrhofer, lebt noch heute in St. Peter in der Au.


Leben im Versteck
Der größte Bereich der Hilfe für bedrohte Jüdinnen und Juden war das das Untertauchen und Leben im Versteck, um sich der bevorstehenden Deportation zu entziehen. „U-Boote“ lebten im Untergrund, versteckt an einem oder mehreren Wohnorten ohne polizeiliche Anmeldung, meist bei nichtjüdischen FreundInnen, Verwandten oder Bekannten. Neben Wohnungen, Geschäftslokalen und Lagerräumen dienten Keller, Dachböden, Schrebergärten, Bunker und mitunter auch Orte unter freiem Himmel als Verstecke. U-Boote versuchten ihre wahre Identität durch die Manipulation ihrer eigenen Dokumente zu verschleiern oder verwendeten gefälschte Papiere. Ungar-Klein hat ca. 1.600 Menschen ermittelt, die sich aufgrund ihrer jüdischen
Herkunft versteckt hielten. Etwa ein Drittel davon überlebte nicht.

Sechs Beiträge des vorliegenden Sammelbands haben solche Rettungsversuche zum
Inhalt: Friedrich Neustadtl arbeitete als Dentist und brachte seine damalige Freundin und spätere Ehefrau Friederike in seiner Praxis unter, wo sie dreieinhalb Jahre versteckt lebte. Im selben Text schildert Elisabeth Holzinger die Rettung von Fritz Krakauer, der sich auf ein ganzes Netzwerk von FreundInnen aus dem sozialistisch bzw. kommunistisch orientierten Arbeitermilieu von SportlerInnen stützen konnte.

DÖW-Bibliothekar Stephan Roth schreibt über die Rettung des Gastwirts Bernhard
Goldstein in Baden bei Wien. Goldstein flüchtete sich am Tag seiner geplanten Deportation spontan auf den Dachboden und wurde dann von seiner Ziehtochter Albine Mikunda illegal in Baden untergebracht.

DÖW-Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider wiederum skizziert die Rettung von Regine Heinrich durch Hermine Riss in Wien. Obwohl Riss im zweiten Bezirk
mit ihrem Sohn nur in einer kleinen Wohnung lebte, versteckte sie neben Heinrich
zeitweilig zwei weitere Personen und rettete ihnen so das Leben. Der Beitrag von
Manfred Mugrauer hat die Salzburger Künstlerfamilie Bäumer zum Inhalt, die 1944 vom katholischen Pfarrer Balthasar Linsinger in Großarl im Pongau aufgenommen wurde. Auf diese Weise konnten die drei Geschwister Angelica, Michael und Bettina vor der drohenden Verfolgung gerettet werden.

Zwei Beiträge zum Thema „Leben im Versteck“ hat Brigitte Ungar-Klein verfasst:
Zum einen über die Ärztin und Juristin Ella Lingens, die bedrohte Jüdinnen und Juden
bei sich versteckte und Fluchthilfe leistete. Zum anderen über die Schauspielerin Dorothea Neff, die ihre Lebensgefährtin, die Kostümbildnerin Lilli Wolff, bei sich
versteckte, nachdem diese die Aufforderung zur Deportation erhalten hatte. Ella
Lingens wurde 1942 gemeinsam mit ihrem Mann Kurt Lingens verhaftet und ins KZ
Auschwitz gebracht. Sie wurde Ende April 1945 im KZ Dachau von US-amerikanischen Truppen befreit. Wolff wiederum erlebte nach Jahren als „U-Boot“ im April
1945 in Wien die Befreiung.

Im Schlusskapitel werden auch der schwierige Neubeginn der Überlebenden nach 1945 und der Umgang der österreichischen Behörden mit der nicht sehr umfangreichen Opfergruppe der jüdischen U-Boote. Das „Leben im Verborgenen“, wie das U-Boot-Dasein im behördlichen Umgang bezeichnet wird, wurde nach 1945 nicht als zu entschädigender Verfolgungstatbestand anerkannt. Erst mit den Novellen des
Opferfürsorgegesetzes im Jahr 1961 und 1970 wurde U-Booten eine Entschädigung
gewährt.

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / Manfred Mugrauer, „Wir hätten es nicht ausgehalten, dass die Leute neben uns umgebracht werden.“ Hilfe für verfolgte Juden in Österreich 1938–1945
Berlin: Lukas Verlag 2023, 444 Seiten, 300 Abbildungen, 25 Euro.
ISBN 978-3-86732-414-4
Bezug im Buchhandel oder direkt beim Verlag: https://www.lukasverlag.com/in-vorbereitung/titel/600-wir-haettenes-nicht-ausgehalten-dass-die-leute-neben-uns-umgebracht-werden.html#

Text und Bilder

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