26. Dezember 2025: Sonderausstellung „Wissen für alle. ISOTYPE – die Bildsprache aus Wien“ im Wien Museum – noch bis 5. April 2026

Hierzu in Verbindung mit Otto Neurath:

Otto Neurath – Aufklärung, Wissenschaft und soziale Verantwortung

Am 22. Dezember 1945 starb Otto Neurath im englischen Oxford – im Exil, ohne nach Wien zurückkehren zu können. Sein Leben steht exemplarisch für eine Generation österreichischer Intellektueller, deren Wirken durch Wissenschaft, gesellschaftliche Verantwortung und politische Verfolgung geprägt war.


Prägungen eines aufgeklärten Elternhauses

Otto Neurath wurde 1882 in Wien geboren. Wissenschaftliche Neugier, Bildungsengagement und gesellschaftliche Kritik bestimmten bereits sein familiäres Umfeld. Sein Vater Wilhelm Neurath, Volkswirtschaftler und scharfer Kritiker des Kapitalismus, verkörperte eine Haltung, die sich von religiöser Tradition löste und stattdessen auf Wissenschaft und Rationalität setzte. Auch wenn Wilhelm Neurath kein Sozialist war, prägte seine kritisch-aufklärerische Denkweise den Sohn nachhaltig.

Von mütterlicher Seite kam ein starkes Engagement für Volksbildung und Frauenrechte hinzu. In der Familie spielten soziale Reformen, Bildung für benachteiligte Gruppen und gesellschaftliche Verantwortung eine zentrale Rolle.


Frühe wissenschaftliche und politische Aktivitäten

Otto Neurath studierte ab 1901 in Wien und Berlin unter anderem Ökonomie, Geschichte, Philosophie und Mathematik. 1906 promovierte er in Berlin. Bereits früh beteiligte er sich an wissenschaftstheoretischen Debatten und wurde Teil jener Diskussionszusammenhänge, aus denen später der Wiener Kreis hervorging.

Beruflich war Neurath zunächst als Lehrer der politischen Ökonomie tätig. Parallel dazu entwickelte er sich zu einem engagierten Intellektuellen, der Wissenschaft nicht als Selbstzweck verstand, sondern als Instrument gesellschaftlicher Aufklärung. Persönliche Schicksalsschläge – darunter der frühe Tod seiner ersten Ehefrau Anna Schapire – prägten ihn ebenso wie die enge Zusammenarbeit mit seiner zweiten Frau Olga Hahn, die trotz Blindheit mit seiner Unterstützung promovierte.


Krieg, Revolution und politische Konsequenzen

Noch vor dem Ersten Weltkrieg bereiste Neurath im Auftrag der Carnegie-Stiftung den Balkan, um wirtschaftliche und politische Konflikte zu analysieren. Während des Krieges arbeitete er in der Wirtschaftsverwaltung der Monarchie und habilitierte sich 1918 in Heidelberg.

Im Revolutionsjahr 1919 übernahm Neurath eine zentrale Funktion in der Münchner Räterepublik, wo er versuchte, Modelle einer geldlosen Wirtschaft umzusetzen. Nach der Niederschlagung der Räterepublik wurde er inhaftiert und verlor seine akademische Position. Nur durch diplomatische Intervention konnte er nach Österreich zurückkehren – ein Einschnitt, der seinen weiteren Weg stark beeinflusste.


Neurath im Roten Wien: Bildung für alle

In den 1920er-Jahren wurde Otto Neurath zu einer Schlüsselfigur der sozialdemokratischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik im Roten Wien. Er leitete den von ihm gegründeten Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen und initiierte das Museum für Siedlung und Städtebau, aus dem später das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum hervorging.

Gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz entwickelte Neurath die Wiener Methode der Bildstatistik. Ziel war es, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge verständlich darzustellen – nicht durch abstrakte Zahlen, sondern durch standardisierte Bildzeichen. Diese visuelle Form der Wissensvermittlung wurde international bekannt und in Ausstellungen, Publikationen und Bildungsarbeit eingesetzt, auch an Wiener Schulen.


Aufklärung als Lebensaufgabe

Neurath verstand Bildung als demokratischen Auftrag. Er hielt Vorträge an Volkshochschulen, lehrte an der Arbeiterhochschule und veröffentlichte zahlreiche populärwissenschaftliche Texte. Wissenschaft sollte aus seiner Sicht allen zugänglich sein – unabhängig von Herkunft, Bildung oder Sprache.

Früh erkannte er die politische Bedrohungslage in Österreich. Bereits Anfang der 1930er-Jahre verlagerte er Teile seiner Arbeit ins Ausland und gründete internationale Einrichtungen zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit.


Exil und internationale Wirkung

Nach den Februarkämpfen 1934 emigrierte Neurath zunächst in die Niederlande. Dort wurde die Wiener Bildstatistik zum Isotype-System weiterentwickelt – einer international verständlichen Bildsprache. Nach der nationalsozialistischen Besetzung der Niederlande gelang ihm 1940 die Flucht nach Großbritannien.

Trotz Internierung als sogenannter „enemy alien“ konnte Neurath seine Arbeit fortsetzen. Er lehrte in Oxford, publizierte international und arbeitete bis zu seinem Tod an einer Wissenschaft, die gesellschaftliche Verständigung fördern sollte. Seine dritte Frau Marie Reidemeister führte sein Werk nach 1945 weiter.


Vermächtnis

Otto Neurath zählt zu jenen vertriebenen österreichischen Wissenschaftlern, deren Einfluss weltweit größer war als in ihrer Heimat. Die von ihm entwickelte Bildsprache bildet bis heute eine Grundlage moderner visueller Kommunikation – von Verkehrszeichen bis zu Leitsystemen im öffentlichen Raum.

Für Neurath ging es dabei nie nur um Gestaltung, sondern um demokratische Aufklärung: Wissen sollte sichtbar, verständlich und für alle zugänglich sein. Seine Idee eines „Bilder-Esperanto“ zielte auf Werkzeuge, die kulturelle und sprachliche Grenzen überwinden.

Heute erinnern Straßennamen, Gedenktafeln und ein eigener Gedenkraum in Wien an Otto Neurath. Sein Werk bleibt ein wichtiger Bezugspunkt für politische Bildung, soziale Demokratie und eine Wissenschaft im Dienst der Gesellschaft.


Links:
Österreichisches Gesellschafts – und Wirtschaftsmuseum

Wien Museum: Wissen für alle. ISOTYPE – die Bildsprache aus Wien

Quelle:
http://der-rote-blog.at/sprechende-zeichen?fbclid=IwY2xjawO6-QFleHRuA2FlbQIxMABicmlkETFaeVBybTFMWlFEbUc3eFBpc3J0YwZhcHBfaWQQMjIyMDM5MTc4ODIwMDg5MgABHknqyWkKGJ9VjShW3mTC7IOLw8i_5w2bdV0o7Yi5dbV7dzGNwV898T1vn7ia_aem__yXK9VMBJ-ndogKSj9-ftA
Originaltext: (c) LILLI BAUER & WERNER T. BAUER „Sprechende Zeichen“

Titelbild: © Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (Ausschnitt)

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